Denn vergeben wird dir nie
Portemonnaie verloren und es würde ein paar Tage
dauern, bevor ich Ersatz für meine Karten erhalten würde.
Dieser Umstand bewirkte, dass Mrs. Willis, die Empfangs
dame, mich sofort in ihr Herz schloss. Nachdem sie sich
vorgestellt hatte, wusste sie zu berichten, dass sie vor
sieben Jahren im Bahnhof ihr Portemonnaie neben sich auf
die Bank gelegt hatte.
»Ich blätterte die Zeitung um«, erinnerte sie sich, »und
in diesen Bruchteilen von Sekunden war es verschwunden.
So ein Ärger. Ich saß völlig auf dem Trockenen. Ich war
hilflos. Und bevor ich überhaupt meine fünf Sinne wieder
beisammen hatte und anrufen konnte, hatte schon jemand
auf meine Karte dreihundert Dollar abgehoben, und
dann…«
Vielleicht wegen dieser gemeinsamen Erfahrung
überließ sie mir ein anscheinend besonders begehrtes
Zimmer.
»Vom Preis her ist es ein Einzelzimmer, aber in
Wirklichkeit ist es eher eine kleine Suite mit einer
getrennten Sitzecke und einer kleinen Küchenzeile. Und
vor allem hat man einen wunderbaren Blick auf den
Fluss.«
Wenn es etwas auf der Welt gibt, was ich liebe, dann ist
es ein Ausblick auf einen Fluss. Warum das so ist, fällt
nicht schwer zu begreifen. Ich wurde in einem Haus in
Irvington mit Blick auf den Hudson gezeugt und
verbrachte dort meine ersten fünf Lebensjahre. Ich
erinnere mich, dass ich, als ich noch sehr klein war, immer
einen Stuhl ans Fenster schob und mich darauf stellte, um
den schimmernden Strom betrachten zu können.
Joan und ich stiegen langsam die zwei Treppen zu
meinem Zimmer hinauf, stellten fest, dass es genau das
war, was ich suchte, und legten mit derselben Langsamkeit
wieder den Weg hinunter und in das kleine Speisezimmer
im hinteren Teil des Gasthauses zurück. Dort angekom
men, hatte ich das Gefühl, die Brandblasen an meinen
Füßen hätten sich verzehnfacht.
Eine Bloody Mary und ein Club-Sandwich taten ihren
Dienst, um mein Lebensgefühl wieder halbwegs ins Lot zu
bringen.
Als wir beim Kaffee angekommen waren, setzte Joan
eine ernste Miene auf und sagte: »Ellie, es fällt mir
schwer, davon anzufangen, aber es muss sein. Leo und ich
waren gestern Abend auf einer Cocktailparty. Alle Leute
reden über deine Website.«
»Und?«
»Einige Leute finden sie schlicht und einfach
unmöglich«, berichtete sie. »Ich weiß, legal spricht nichts
dagegen, dass du sie unter Rob Westerfields Namen
eingetragen hast, aber viele Leute sind der Meinung, das
sei unfair und völlig unnötig.«
»Schau nicht so bekümmert«, sagte ich. »Ich habe nicht
die Absicht, den Boten für die schlechte Nachricht zu
bestrafen, und es interessiert mich, was die Leute darüber
sagen. Was gibt es noch für Reaktionen?«
»Dass es nicht richtig war, diese Verbrecherfotos von
ihm auf der Website zu bringen. Dass die Beschreibung
von Andreas Verletzungen aus dem Obduktionsbericht
eine brutale Lektüre abgibt.«
»Es war ein brutales Verbrechen.«
»Ellie, du hast mich gebeten, dir zu sagen, was die Leute
reden.«
Joan blickte so unglücklich drein, dass ich mich
schämte. »Entschuldige. Ich weiß, dass es dir schwer
fällt.«
Sie zuckte die Achseln. »Ellie, ich selbst glaube, dass
Will Nebels Andrea ermordet hat. Die Hälfte der Leute in
der Stadt glaubt, dass Paulie Stroebel schuldig ist. Und
viele andere sind der Meinung, dass Rob Westerfield,
selbst wenn er schuldig sein sollte, seine Strafe abgesessen
hat und nun auf Bewährung entlassen worden ist, und dass
du das akzeptieren müsstest.«
»Joan, wenn Rob Westerfield seine Schuld eingestanden
und ehrliche Reue gezeigt hätte, dann würde ich ihn zwar
immer noch hassen, aber es hätte keine Website gegeben.
Ich verstehe zwar, dass die Leute so denken, aber ich kann
jetzt nicht mehr zurück.«
Sie reichte ihre Hand über den Tisch, und ich ergriff sie.
»Ellie, es gibt noch eine andere Sympathiewelle, und
zwar für die alte Mrs. Westerfield. Ihre Haushälterin
erzählt jedem, der es hören will, wie sehr die Website sie
mitgenommen hat und wie sehr sie sich wünscht, du
mögest sie wenigstens so lange wieder schließen, bis es
einen neuen Prozess mit einem neuen Urteil gibt.«
Ich dachte an Dorothy Westerfield, diese elegante Frau,
wie sie meiner Mutter am Tage der Beerdigung ihr Beileid
bekundet hatte und wie mein Vater sie des Hauses
verwiesen hatte. Er hatte damals ihr Mitgefühl nicht
ertragen können, und jetzt konnte ich mir nicht erlauben,
mich von Mitgefühl für sie fortreißen zu
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