Denn Wahrheit musst du suchen
er mit seinen Leuten nachkommen würde, um sie zu holen. Zehn Minuten, um Rachel zu befreien. Zehn Minuten, die sie überleben musste.
Ein leichter Dunst kam auf; winzige Regentropfen hängten sich an ihre Wimpern.
Rajs Plan war, dass sie vor dem Turm stehen bleiben und Nathaniel auffordern sollte, herauszukommen. »Was immer geschieht«, hatte er ihr eingeschärft, »geh nicht in den Turm rein. Verstanden?«
Als sie nun auf dem einstigen Burghof stand, ertönte wieder Nathaniels Stimme in ihrem Ohr – so leise und übernatürlich ruhig, dass es ihr einen Schauder über den Rücken jagte.
»Geh in den Turm.«
Entsetzt antwortete Allie laut: »Nein!«
»Allie?« Rajs Stimme in ihrem Ohr.
Sie biss sich auf die Lippe. »Verstanden«, flüsterte sie.
Sie ballte die herabhängenden Hände zu Fäusten und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie musste
nachdenken
.
Wenn sie auch nur einen seiner Befehle verweigere, werde er Rachel töten, hatte Nathaniel gesagt. Aber würde er das wirklich tun? Ohne Rachel hätte er doch keinen Einfluss mehr auf Allie. Warum hätte sie ihn dann noch anhören sollen?
Dieser Gedanke erschien ihr so logisch, dass plötzlich das Adrenalin durch ihre Adern schoss und ihr eine gefährliche Kühnheit verlieh.
Ich kann das.
Mitten in den Ruinen stehend, holte sie tief Luft und streckte die Arme aus.
»Nathaniel! Du hast gesagt, du willst mich sehen, stimmt’s? Nun,
hier bin ich
. Komm raus und zeig dich!«
Ihre Stimme schien sich in den düsteren Wolken zu verlieren. Langsam drehte Allie sich im Kreis und suchte in den schattigen Winkeln und Felsvorsprüngen der Burg nach Hinweisen auf Nathaniel.
Der Regen wurde nun immer stärker. Das Haar klebte ihr an der Kopfhaut und schlängelte sich in nassen Strähnen über die Schultern.
Raj hatte ihr eingeschärft, Nathaniel nicht zu provozieren, doch sie spürte die wachsende Wut und konnte sich nicht beherrschen. »Komm schon, Nathaniel! Du hast mich doch nicht etwa angelogen, oder? So was würdest du doch nicht tun, nicht wahr?«
»Treib’s nicht zu weit, kleines Mädchen.«
Die ruhige Stimme kam zugleich aus dem Turm und aus dem Empfänger in Allies Ohr. Als Allie sich umdrehte, trat Nathaniel gerade aus der Dunkelheit.
Hektisch suchte sie nach Rachel. Doch er war allein.
Wie letzten Sommer, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, nahm Allie erstaunt zur Kenntnis, wie unglaublich gewöhnlich Nathaniel aussah. Mit seinem ordentlichen, dunklen Haar und dem durchschnittlichen Körperbau wäre er unter den Lehrern in Cimmeria nicht aufgefallen. Sein Gesicht war ganz hübsch, aber nicht spektakulär – die Nase etwas zu groß, die Augen ein wenig zu klein, um perfekt zu sein. Aber wie ein Monster sah er wirklich nicht aus.
Sein teurer Anzug wirkte in dieser Umgebung völlig fehl am Platz. Er war gekleidet wie ein Banker. Die Manschettenknöpfe, die das Licht ihrer Taschenlampe auffingen, funkelten kalt.
»Du enttäuschst mich«, sagte er. »Ich hätte schon gedacht, es läge dir so viel an deiner Freundin, dass du tust, was man dir sagt.«
»Mir liegt genug an meiner Freundin, um dir kein Wort zu glauben«, entgegnete Allie mit breiter Brust, obwohl ihr die Hände zitterten. »Wo ist sie, Nathaniel? Wo ist Rachel? Hol sie her, oder ich mach auf der Stelle kehrt.«
Und um zu zeigen, dass sie es ernst meinte, trat sie zwei Schritte zurück. Er hob die Hand.
»Christopher hatte recht, was dich betrifft. Du hast’s immer wahnsinnig eilig«, sagte er mit einem kalten Lächeln. »Nie nimmst du dir die Zeit, eine Sache zu Ende zu denken.«
Bei der beiläufigen Erwähnung dieses Namens stockte Allie der Atem, doch sie wollte Nathaniel nicht zeigen, wie weh ihr der Gedanke an ihren Bruder tat, der sie verlassen hatte.
Nathaniel sollte denken, dass es ihr egal war.
»Hör mir bloß mit Christopher auf, sonst fang ich gleich an zu flennen.« Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus. »Und jetzt will ich meine Freundin wiederhaben. Wo ist sie?«
»Du bist wirklich außergewöhnlich stur. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Allie sah ihn herausfordernd an. »Ja. Wo ist sie?«
Mit einem dramatischen Seufzer hob Nathaniel die rechte Hand. »Gabriel. Zeig ihr das Mädchen. Vorher kann man kein vernünftiges Wort mit ihr reden.«
Gabe
.
Allie kam es so vor, als würde ihr Herz auf die Größe eines Eiswürfels zusammenschrumpfen.
Jos Mörder trat aus dem Schatten und zerrte Rachel hinter sich her wie eine Beute. Einen seiner kräftigen
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