Denn wer zuletzt stirbt
ich nach mir bisher vielleicht entgangenen Symptomen suche.
»Gute Nacht, Felix. Melde dich, wenn du wieder bei Verstand bist.«
Auf der Röntgenbesprechung am nächsten Tag wurden auch die Lungenbilder von Herrn Winter demonstriert. Für den Krankenhausarzt ist die tägliche Röntgenbesprechung ein Ritual. Man kann nicht nur die Befunde der eigenen Patienten diskutieren, sondern bekommt auch einen Überblick, was sonst so in der Klinik läuft, in einem Nachtdienst oft von unschätzbarem Wert. Natürlich auch eine optimale Gelegenheit für die Alleswisser unter meinen Kollegen, ungefragt ihren Senf zu jedem Fall beizutragen oder durch besonders hinterhältige Nachfragen ihre überlegenen medizinischen Kenntnisse zu unterstreichen.
Zu Anfang meiner Arztkarriere wurden auf der Röntgenbesprechung tatsächlich Röntgenbilder vorgestellt. Ein paar Lungen, ein paar Mägen, eine Niere oder eine Galle und zum Schluß noch ein paar gebrochene oder zusammengenagelte Knochen für die Kollegen von der Traumatologie. Heute machen Röntgenbilder nur einen geringen Teil der Veranstaltung aus. Wir sehen inzwischen Computertomogramme, erweitert durch Fast-CT oder Spiral-CT, bemerkenswert detaillierte Aufnahmen aus der Kernspintomographie, manchmal nicht so detaillierte Sonographiebilder – kein Organ entgeht mehr seiner visuellen Abbildung. Und jeder fragliche Befund auf diesen Bildern führt zu einer weiteren, im Zweifel teureren Untersuchung. Trotzdem herrscht allgemeine Verwunderung über die Zunahme der Kosten im Gesundheitswesen.
Bei meinen Patienten besteht nur selten die Notwendigkeit zum Röntgen. Schließlich leite ich, auch wenn ich es immer wieder vergesse, eine Abteilung für chronisch Kranke, mit deutlich niedrigerem Bettensatz als die Klinikpatienten, woran mich Beate erinnert, wenn in ihren Computerausdrucken zu häufig Röntgenanforderungen von mir auftauchen. Sie hat recht, denn in der Regel müssen meine Patienten nur geröntgt werden, weil sie aus dem Bett gefallen oder irgendwo gestürzt sind. Trotzdem gehe auch ich fast täglich zur Röntgenbesprechung, schon, um nicht den Kontakt zur »richtigen« Klinik zu verlieren.
Nach ein wenig Dösen waren endlich auch die Bilder von Herrn Winter dran. Mit erschreckender Deutlichkeit hatten die Röntgenstrahlen die Ursache für seinen zunehmenden Husten und die verstärkte Atemnot erfaßt: Der Krebs hatte die Lunge erreicht, die sich den begrenzten Platz im Brustraum jetzt mit großen, runden Metastasen teilen mußte. Außerdem noch mit einem Erguß im Rippenfell. Aber das wußte ich schon, seitdem ich Winter heute morgen untersucht hatte.
»Ist das der Primärtumor?« fragte jemand.
»Nein«, antwortete ich.
»Es geht um ein Prostatakarzinom. Ausgedehnte Knochenmetastasen.«
Ich berichtete kurz über die bisherige Behandlung.
»Die Lungenmetastasen sprechen im allgemeinen gut auf Cisplatin an«, hörte ich von hinter mir.
»Am besten in Kombination mit Estramustin«, schaltete sich eine Kollegin ein.
»Und den Rest können wir dann bestrahlen«, meldeten sich die Röntgenärzte zu Wort.
Ich ließ die Gemeinde diskutieren und hörte interessiert zu. Aber ich will nicht ungerecht sein, schließlich kam die Frage doch noch.
»Wie alt ist der Mann, Felix? Und wie ist er denn sonst so drauf?«
»Genau das ist der Punkt. Vielleicht sollten wir gar nichts machen.«
»Aber das geht doch nicht. Unter Prednimustin plus Cyclophosphamid verschwinden diese Knollen ratz-fatz, habe ich schon häufig gesehen.«
Das hatten andere auch, wieder andere nicht. Es entspann sich eine lebhafte Diskussion über die Frage, wie es mit Herrn Winter weitergehen sollte. Die Alleswisser trugen die neuesten Statistiken aus irgendwelchen Megastudien bei, mit allerdings recht widersprüchlichen Ergebnissen. Ich kam mir vor wie in diesen amerikanischen Filmen, wo die zwölf Geschworenen über das Urteil für den Angeklagten stritten. Hier aber ging es nicht um Leben oder Tod, sondern um Tod in den nächsten Wochen oder Tod in den nächsten Monaten. Und es ging nicht um einen Angeklagten, der letztlich das Urteil der Jury zu akzeptieren hatte. Auch meines nicht.
»Ich werde die Möglichkeiten mit dem Patienten besprechen«, beendete ich die Diskussion. Schließlich wollte ich noch zum Mittagessen.
Nach dem Mittagessen sprach ich mit Winter. Er saß an der Bettkante, so lange er sich nicht bewegte und den Sauerstoffschlauch in der Nase behielt, reichte ihm die Luft einigermaßen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher