Depeche Mode
mit denen sie sich gegenseitig das Gesicht zerkratzen und unter denen das Salz des Himmels geronnen ist, blitzen in der Luft wie die Schere in der Hand eines geübten Schneiders, sie boxen sich ins Gesicht, und schon sind ihre Fäuste blutverschmiert, plötzlich geht einer von beiden zu Boden, schlägt mit dem Kopf auf die kalten Flurfliesen, und der gewonnen hat – der größere – geht zu ihm und küßt ihn auf die dicken blutigen Lippen, aus denen jetzt pasteurisierte Milch fließt. Ich träume, daß ich die Lunge dieses Engels bin, ich spüre, wie jemand ihn – meinen Engel – lange und ausdauernd tritt, genau die Stelle seines dicken Körpers, wo ich mich befinde, mit schweren Fußballstiefeln, langsam drehe ich mich in seinem Körper, übersät mit Striemen und Wunden, aus meinen Wunden fließt Milch, ich versuche, den Tritten auszuweichen, aber ich kann nirgendwohin ausweichen, weil ich vollständig von demjenigen abhängig bin, in dessen Körper ich stecke, der mich mit seinem Körper schützt und der mich die ganze Zeit ausnutzt, mir bleibt nichts anderes übrig, als zu leiden und zu beobachten, wie die Milch aus all meinen Poren, aus jedem Riß, jeder Wunde fließt, aus mir herausfließt wie mein Schmerz, meine Angst, mein Leben.
Ich träume von meinem Engel, er ist tot, und man bringt ihn weg, um seinen toten besiegten Körper zu verbrennen, man schleift ihn über den schwarzen Fußboden des Leichenhauses wie ein totes Huhn, Blut und Milch haben sich in seinen Federn vermischt und ziehen eine blutige Spur, man zerrt ihn in ein großes Zimmer, legt ihn auf einen Metalltisch und zieht ihm die Reste seiner Kleider aus – die schwarzen Buchhalter-Ärmelschoner, den grauen Business-Anzug, die gelben italienischen Schuhe, die schwarzen Socken, die blaue Unterhose, das weiße Unterhemd, dann nimmt einer das Skalpell und beginnt mit der Autopsie, schneidet die Leiche von der Gurgel bis zum Bauch auf und betrachtet die kaputten und ausgemergelten Innereien, von Ameisen, Bienen und Spinnen ausgefressen und dann mit fetter pasteurisierter Milch gefüllt. Der Schnitt folgt einer Tätowierung auf seinem Körper – ein altes verblaßtes Kruzifix, gelber Jesus auf einem jodgrünen Kreuz. Jesus hat das Skalpell fast unbeschadet überstanden, das Kruzifix dagegen ist in zwei Teile geborsten, nur wenn man den Brustkorb wieder zunähen würde, könnte man sich vorstellen, wie das alles ursprünglich ausgesehen hat.
4.40
In Tschuhujiw steigen wir nicht aus. Irgendwo in der Stadt, denke ich, wälzt Kakao gerade seinen dicken und verschwitzten Körper im Bett herum. Er würde uns verfluchen, wenn er das wüßte. Aber der Zug hält in Tschuhujiw nur anderthalb Minuten, der Bahnhof von Tschuhujiw ist in dieser stürmischen Nacht naß und unwirtlich, und auch wenn wir eineinhalb Tage hier stehenblieben, würde ich meinen Waggon nicht verlassen, obwohl das in den Augen der Donbass-Intelligenz bestimmt keine valablen Gründe sind. Wie auch immer – wir steigen nicht aus. Niemand steigt aus.
5.30
In Kinzewa suchen wir nach einer Bank, um die nächsten paar Stunden abzuwarten, bis zum Anschlußzug, aber hier gibt's plötzlich wirklich Armeeabgänger und Pilzsammler, alle Bänke im Wartesaal sind von dubiosen Subjekten besetzt, wir gehen also wieder hinaus auf den einzigen Bahnsteig, die Lautsprecher nennen ihn pathetisch Bahnsteig Nr. 1, als ob es hier noch einen zweiten gäbe, etwa hundert Meter vom Bahnhof entfernt sieht man eine hohe Fußgängerbrücke, die über diesem ganzen Panorama hängt, geil, sage ich, laßt uns auf die Brücke gehen, schlafen kann man hier sowieso nicht, wir steigen die Metalltreppe hoch und betrachten die Landschaft, ins Unendliche verzweigte Schienen, zusammengeschobene Güterwagen, Kesselwaggons, Schotter, Signale, Bäume, Nebel, Bahnhofsgebäude, alles mögliche, aber nichts, worüber man sich unterhalten könnte, also sitzen wir schweigend hier, in Wolken und Nebel, betrachten die ganze verkrüppelte Eisenbahninfrastruktur und trinken kaltes Mineralwasser.
7.25
Endlich kommt unser Zug, wir zwängen uns durch die schläfrige Menschenmenge und fahren in Richtung Wuslowa. Zwei weitere Stunden Leben. Zwei normale Morgenstunden, warum nicht.
Schade, daß man keine Gelegenheit zum Schlafen hat, also ich zum Beispiel kann in vertikaler Lage nicht lange schlafen, das demütigt mich irgendwie, entsetzlich – sitzen und schlafen oder stehen und schlafen, ihr versteht schon, da
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