Depression! Wie helfen? - das Buch für Angehörige
alles in Ordnung sei. Die ständige Alarmbereitschaft, die Furcht, Signale zu übersehen, zehren an unseren Kräften. Sie fixieren unsere Gedanken auf dieses Thema und lassen wenig Raum für ebenso nötige andere Überlegungen, sei es im Zusammenhang mit dem Kranken oder unserer Tätigkeit in Beruf und Privatleben.
Äußert er konkrete Absichten, seine Misere zu beenden, dann herrscht eine hohe Alarmstufe. Ein Klinikaufenthalt wird unausweichlich. Wir können versuchen, den Kranken dazu zu überreden, hinter schützenden Mauern Halt zu suchen, indem wir auf die Unwiderruflichkeit und auf das Leid hinweisen, das er seiner Umgebung antun würde. Eventuell müssen wir die Entscheidung für ihn treffen und ihn ins Auto packen, denn zu Hause können wir ihn nicht rund um die Uhr bewachen. Solche Zwangseinweisungen bedingen aber, da sie eigentlich eine Freiheitsberaubung darstellen, die Beachtung gewisser rechtlicher Voraussetzungen. Jede Klinik kann hierzu Auskunft geben. Übrigens: Meist wird uns der Kranke dankbar sein, wenn er wieder gesund ist, dass er am Leben geblieben ist. Manfred L. Lütz dazu: »Es gibt nicht nur lebensrettende Operationen, es gibt auch lebensrettende Zwangseinweisungen« (2011, S. 151).
Auch wenn sich der Depressionsbetroffene über seine Ziele ausschweigt, gibt es vielerlei Anzeichen, die bei uns sämtliche Warnlampen leuchten lassen sollten. Ich habe sie in der Checkliste Alarmsignale bei Suizidgefährdung aufgeführt. Wenn wir glauben (wir müssen nicht einmal sicher sein), dass Anzeichen bestehen, dürfen wir nicht in Panik geraten, sondern umsichtig Maßnahmen treffen, wie sie in der Checkliste Verhalten und Maßnahmen bei Suizidgefahr zusammengefasst sind.
Mit Kranken, die bereits in einer (offenen) Klinik sind, wird, wenn Selbsttötung »in der Luft liegt«, kurzer Prozess gemacht. Ich habe es selbst erlebt, wie aufgrund (nur) missverständlicher Äußerungen eines Patienten auf Urlaub nach seiner Rückkehr in die Klinik sämtliche Fallgitter herunterrasselten. Ausgangssperren wurden, zum ausgesprochenen Missvergnügen des Betroffenen, erst nach intensiven therapeutischen Gesprächen wieder aufgehoben.
Ist unser Freund in der Klinik, tritt zu Hause eine Beruhigung ein, die wir zum Aufatmen nutzen können. In der Klinik kommen Therapien zum Einsatz, die den Sensenmann weit in die Wüste schicken – ganz verschwinden wird er erst, wenn die Depression zu Ende ist.
Noch ein kurzer ethischer Exkurs zum Schluss: In letzter Zeit wird viel über den freiwilligen »Abgang« am Lebensende debattiert und geschrieben. Nicht mehr Gott, sondern der Mensch sei Herr über Leben und Tod. Hat der Depressionskranke ein Recht auf den Tod? Ich glaube nicht. Wenn ein Mensch am Ende eines langen und erfüllten Lebens keinen Sinn mehr im Weiterleben sieht, sondern nur noch Abhängigkeit und Schmerzen, und wenn für seine Nachkommen gesorgt ist oder diese gar einverstanden sind, liegt der Fall anders, als wenn ein in der Depression Gefangener seine Angehörigen, vielleicht sogar unmündige Kinder, Knall und Fall hinter sich lässt. Und, wie gesagt: Wer den Hauch des Todes einmal verspürt hat, ist oft dankbar für das wiedergewonnene Leben.
Unser Über-Leben – Was müssen wir für uns tun?
Die bisherigen Kapitel beschäftigten sich vor allem mit dem Depressionskranken. Wir lernten seine Krankheit kennen und erfuhren, wie sie ihn verändert. Wir fragten uns, wie wir dem Depressionsbetroffenen helfen können. Die Erkrankung unseres Angehörigen erzeugt viel Wirbel, der unsere Tatkraft bis an die Grenzen beansprucht. Auch wenn unser Denken und Handeln in die Zukunft wiesen, waren es Reaktionen auf Zustände oder Handlungen, die in direkter Weise mit dem Kranken zusammenhingen. Er war immer der Motor des Geschehens, unseres Fühlens und Denkens.
Im Folgenden geht es nun um uns selber, um das eigene Ich. Natürlich können wir die Grenzen, die uns unsere Betreuungsaufgabe setzt, nicht außer Acht lassen, aber wir können sie beträchtlich ausweiten, wenn wir planmäßig – und bedächtig – vorgehen. Der Depressionskranke ist wohl der Auslöser unseres gegenwärtigen Seelenzustandes, aber er muss nun in den Hintergrund treten. Wir Angehörige haben die natürliche Tendenz, in unseren Beziehungen zum Patienten zuerst einmal seine und unsere gemeinsamen Schwierigkeiten anzugehen und unsere eigenen Probleme von uns wegzuschieben. Nun müssen wir für uns selber tätig werden.
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