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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Klassen
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davor. Aber dann habe ich doch immer wieder so getan, als wäre bei mir alles in bester Ordnung.
    »Mein Vater ist etwas streng, aber fair, genau, wie ihr ihn aus dem Sportunterricht kennt«, habe ich behauptet.
    Deshalb fürchte ich, dass Du mir nicht glaubst, wenn ich Dir erzähle, dass ich mit den guten Noten, den Medaillen und Urkunden meine Geschwister und meine Mutter vor ihm beschützen muss.
    Mein Vater ist ein Ungeheuer.
    Zu Hause versucht jeder von uns, so unsichtbar wie möglich zu sein, um bloß nicht seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wenn er etwas sagt, springen wir alle auf und versuchen, es ihm möglichst schnell recht zu machen, damit er nur nicht wütend wird.
    Dabei ist es unmöglich, ihn nicht wütend zu machen.
    Er nutzt jede Gelegenheit, um uns Angst einzujagen, um uns schlagen zu können.
    Ich glaube, es gefällt ihm, meine Mutter und uns Kinder weinen zu sehen.
    Irgendeinen blöden kleinen Anlass findet er immer, eine umgeworfene Tasse oder ein schlecht gespieltes Klavierstück reichen aus.
    Nur ich kann ihn beruhigen. Alle hoffen immer auf mich! Wenn ich eine Eins, eine neue Bestzeit über 100 m Freistil oder auch nur einen fehlerfreien Vokabeltest mit aus der Schule bringe, bessert sich seine Laune. Wenn ich auch noch behaupte, es wäre mir leichtgefallen, ist er zufrieden und lässt uns alle in Ruhe.
    Wenn ich wirklich wage, Dir diesen Brief zu geben, wirst Du die Einzige sein, die davon weiß.
    Ich schäme mich, dass ich nie den Mut hatte, Dir alles zu erzählen. Aber ehrlich gesagt, würde ich Dir auch jetzt nicht schreiben, wenn nicht noch etwas Schlimmeres passiert wäre.
    Ich habe immer geglaubt, dass es ganz normal ist, wenn die Familie tut, was der Vater sagt. Ich habe es nie anders kennengelernt.
    Und wer nicht gehorcht, wird bestraft.
    Doch jetzt musste ich erleben, wie weit mein Vater geht, wenn ich nicht gehorche.
    Ich wollte nämlich aufhören zu schwimmen.
    Ich weiß, auch darüber habe ich nicht mit Dir gesprochen.
    Ich hätte es tun sollen.
    Du hast bestimmt gemerkt, dass ich nicht mehr so viel trainiere und nicht mehr so viel lerne, seit ich mit Mario zusammen bin.
    Und ich habe meinem Vater gesagt, dass ich aufhören will! Ich habe ihn noch nie so ausrasten sehen!
    Aber ich hatte auch nie zuvor gewagt, ihm zu widersprechen. Ich dachte, er bringt mich um. Und vielleicht hat er das auch.
    »Du willst lieber bumsen als arbeiten, du Flittchen? Ich wusste, dass das kommt, sobald du Titten kriegst! Ihr Scheißweiber seid doch alle gleich!« Das hat er wirklich gesagt.
    Und: »Das kannst du haben!«
    Ich glaube, es hat ihm Spaß gemacht. Und ich glaube, er wird es wieder tun. Ich schwöre, Lena, es ist wahr, er hat –
    Der Zettel in meiner Hand zitterte ein klein wenig.
    Da stand es, doch Eva hatte es wieder durchgestrichen. Sie hatte es nicht sehen können, nicht einmal aufgeschrieben:
    – mich vergewaltigt!
    Ich hatte Ahrend wieder vor Augen, den beißenden Geruch seiner Wut in der Nase. Automatisch presste ich die Knie aneinander, spürte die Blutergüsse an meinen Beinen.
    Eva hatte den Brief an dieser Stelle abgebrochen. Und dann wahrscheinlich die achte Version geschrieben.
    Danner öffnete einen der Umschläge und faltete das Papier auseinander, Staschek zählte die Briefe.
    Insgesamt hatte Eva zwölf Mal versucht, diesen Brief zu schreiben.
    Nein, dreizehn Mal!
    Den dreizehnten Brief hatte sie Lena geben wollen.
    Den dreizehnten Brief hatte Jendrick Haberland aus Evas Schultasche gestohlen.
    Wegen des dreizehnten Briefs hatte Ahrend Jendrick umgebracht.
    »Seit wann wissen Sie von den Briefen?«, fragte Danner Christa Ahrend.
    Ich erstarrte, als mir klar wurde, worauf er hinauswollte.
    Doch Danner ließ nicht locker – er ließ ja nie locker, wenn er jemandem die Schlinge um den Hals gelegt hatte: »Seit wann? Schon vor Evas Tod oder erst danach?«
    Evas Mutter heulte auf und der Laut klang so gequält, dass mir ein Schauer über den Rücken kroch.
    »Schon vorher«, stellte Danner fest. »Und als Sie von Evas Tod erfuhren, haben Sie die Briefe aus ihrem Zimmer geholt und versteckt.«
    Sie nickte.
    Danner wandte sich ab und ging zum Fenster.
    Ich wunderte mich, dass Christa Ahrend mir leidtat. Ich hätte niemals gedacht, dass mir eine Mutter leidtun könnte, die ihre Tochter derart im Stich gelassen hatte.
    Eine Sekunde lang ahnte ich, wie ausweglos ihr ihr Leben vorgekommen sein musste.
    Wie es vielleicht auch anderen Müttern in ähnlichen Situationen vollkommen

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