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Der 13. Engel

Der 13. Engel

Titel: Der 13. Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Borlik
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ein Tratschmaul, dachte Amy und fühlte einen zornigen Stich im Herzen. Mich möchte sie aus der Stadt jagen, weil sie um ihren guten Ruf fürchtet, und dabei trägt sie selber noch zu dem ganzen Gerede bei!
    »Hochverrat ist nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen sollte, hm.« Mr Fraud wirkte mit einem Mal sehr nachdenklich. »Ich frage mich …« Er sah Amy unverwandt an, woraufhin sie leicht erschauderte. »Er ist doch ein angesehener Reporter bei der Royal Post, nicht wahr? Und er hat der Polizei schon viele Male geholfen. Von so jemandem erwartet man doch nicht, dass er etwas Ungesetzliches tut.«
    Amy nickte leicht. Worauf wollte ihr Lehrer hinaus? Oder war er einfach nur neugierig?
    »Bestimmt hat es etwas damit zu tun, woran er zuletzt gearbeitet hat.« Er musterte Amy forsch aus zusammengekniffenen Augen. »Was denkst du?«
    »Ich weiß es nicht, Sir«, antwortete Amy vorsichtig. »Er hat mir nichts darüber erzählt.«
    »Rein gar nichts?«, hakte Mr Fraud wissbegierig nach.
    Amy schüttelte den Kopf.
    Mr Fraud schürzte kurz die Lippen, als dächte er über ihre Antwort nach. Schließlich zuckte er die Schultern und führte Amy für die letzte Unterrichtsstunde ins Musikzimmer, in dem das verwaiste Klavier stand, das sie gestern entdeckt hatte. »Kannst du darauf spielen?«, wollte er wissen.
    »Nein, Sir.«
    »Spielst du überhaupt ein Instrument?«
    Amy schüttelte den Kopf.
    Mr Fraud wirkte bestürzt. »Das ist sehr bedauerlich.« Seine rechte Hand verschwand in der Innenseite seines Jacketts und fischte ein großes weißes Taschentuch hervor, mit dem er über den Hocker wischte, der vor dem Klavier stand.
    Amy hatte dieses Verhalten in den letzten Stunden mehrmals bei ihm beobachtet. Bevor Mr Fraud sich setzte oder etwas anfasste, säuberte er es erst sorgfältig, als fürchtete er, sich daran schmutzig zu machen oder sich mit einer Krankheit zu infizieren. Nachdem er Platz genommen hatte, schwebte seine Hand mit dem Taschentuch für einen Moment über den Tasten des Klaviers, als wollte er auch sie abwischen. Doch dann steckte er es unverrichteter Dinge wieder ein.
    »Ich werde dir jetzt etwas vorspielen«, sagte Mr Fraud. »Ich möchte, dass du dich hinter mich stellst und mich genau dabei beobachtest. Vielleicht lernst du ja noch was.« Er zögerte kurz, als müsse er sich zwingen, seine langen schlanken Finger auf die Tasten zu senken. Sobald er jedoch angefangen hatte zu spielen, ging eine Verwandlung mit Mr Fraud vor sich. Seine Gestalt straffte sich mit einem Mal, wodurch er größer und herrischer wirkte. Und er spielte gut. Sogar besser als gut. Er entlockte dem Klavier Töne, von denen Amy nie gedacht hätte, dass es sie tatsächlich geben könnte, und er verwob sie zu einer Melodie, so wunderschön und mitreißend, dass sie Amy die Tränen in die Augen trieb.
    Überraschend brach Mr Fraud ab. »Nein, das ist zu gut, viel zu gut«, ermahnte er sich selber und wechselte zu einem anderen Klavierstück. Es war einfacher, weniger vollkommen, und dennoch perfekt gespielt.
    Amy war enttäuscht. Sie verstand Mr Fraud nicht. Fürchtete er sich vor seiner eigenen Begabung? Oder davor, dass er sie vor Amy preisgegeben hatte? Sie starrte auf seinen Hinterkopf, als könne sie so seine Gedanken lesen. Warum kam es ihr plötzlich so vor, als hätte alle Welt Geheimnisse vor ihr? Nachdenklich zupfte sie an einer ihrer Locken, als sie eine Bewegung an der Terrassentür wahrnahm.
    Finn stand dort, hatte die Nase platt ans Glas gedrückt und blickte zu ihnen herein. Als er Amy erkannte, winkte er sie zu sich. Sie schüttelte den Kopf und deutete auf Mr Fraud, der zum Glück so sehr in sein Klavierspiel versunken war, dass er nichts bemerkte. Finn machte ein fragendes Gesicht. Er wollte wohl wissen, ob sie sich später sehen würden. Amy blickte an ihm vorbei in den Garten. Es hatte bereits zu dämmern begonnen. Bald würde es Abendessen geben und danach ließ Tante Hester sie bestimmt nicht mehr vor die Tür. Sie zog eine gequälte Grimasse und formte ein Nein mit den Lippen.
    Finns Mundwinkel sackten nach unten. Er winkte ihr noch einmal zu – sehr viel kürzer als vorhin. Dann wandte er sich ab und verschwand zwischen zwei Hagebuttenbüschen. Amy sah ihm besorgt nach. Hoffentlich war er nicht sauer auf sie.
    »Was tust du da?« Mr Fraud hatte sein Klavierspiel unterbrochen und blickte sie fragend an.
    »Ich? Nichts, Sir«, sagte Amy. »Ich … ich dachte nur, da wäre etwas im Garten gewesen. Ich

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