Der 13. Engel
Fliederbusch in Deckung. Von Tante Hester war schon nichts mehr zu sehen.
Amy überquerte den freien Platz, auf dem das Haus ihrer Tante stand, und wurde erst langsamer, als sie unter die Kastanienbäume am Straßenrand eintauchte. In ihrem Schatten fühlte sie sich sicher. Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, dass Tante Hester von ihrem kleinen Ausflug erfuhr.
Der Weg nach Hause war viel länger, als Amy es sich vorgestellt hatte. Und das Geld, um einen Kutscher zu bezahlen, hatte sie nicht. Also musste sie laufen. Amy zog den Mantel enger. Sie fröstelte ein wenig. Der Herbst machte sich immer stärker bemerkbar, trotz des anhaltend schönen Wetters.
Nach einiger Zeit gelangte Amy in eines der ärmeren Viertel der Stadt. Die Häuser wirkten heruntergekommen und schäbig – genauso wie die Bewohner dieser Gegend, finstere Gestalten, die in schattigen Hauseingängen lungerten und Amy teils neugierige, teils hasserfüllte Blicke hinterherschickten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie für dieses Abenteuer viel zu vornehm gekleidet war. Alles Tante Hesters Schuld, dachte Amy. Sie hatte ihr ja unbedingt die neuen Kleider kaufen müssen, nur damit sie sie nicht vor ihren Nachbarn blamierte.
Amy ging schneller. Sie eilte an stinkenden Müllhaufen vorüber, die sich zu beiden Seiten der Straße türmten und aus denen unablässiges Rascheln und Scharren drang. Ratten. Amy schüttelte sich. Plötzlich sprang hinter einem der Müllhaufen eine Gruppe von drei Lumpenkindern hervor. Ausgemergelte Geschöpfe mit schmutzigen Gesichtern und großen hungrigen Augen. Die Hoffnung auf Arbeit musste ihre Familien in die Stadt getrieben haben, nachdem man im Sommer mit dem Bau des gewaltigen Abwassersystems begonnen hatte, das dem grässlichen Gestank abhelfen sollte, der über allem lag, seit die neuen Fabriken ihre Abwässer in den Fluss leiteten.
Amy konnte den dreien ansehen, dass sie etwas vorhatten. Für die Lumpenkinder war sie jemand, an dem sie ihren Frust und ihre Enttäuschung auslassen konnten. Hilfe suchend blickte sie sich um. Kein Erwachsener war in der Nähe. Jetzt blieb ihr nur noch eins: Flucht. Sie lief so schnell, dass die Absätze ihrer Stiefel auf dem Straßenpflaster klackerten. Die Lumpenkinder folgten ihr und riefen ihr Beschimpfungen nach:
»Reiche Schnepfe!«
»Dumme Gans!«
»Eingebildete Ziege!«
Dann schickten sie ihr auch noch einen Fluch hinterher, der matschige und mit grünem Pelz überzogene Kartoffelschalen auf sie herabregnen ließ. Amy schrie angeekelt auf und erntete Gelächter dafür, das jedoch schon bald hinter ihr zurückblieb.
Keuchend bog Amy in eine verwinkelte Gasse, die so eng war, dass sich die Dächer der gegenüberstehenden Häuser fast berührten. Sie blieb stehen und lauschte. Stille. Die Lumpenkinder hatten wohl aufgegeben. Erleichtert atmete Amy auf. Allerdings fühlte sie sich in dieser düsteren Gasse nicht viel besser. Es stank so erbärmlich, als wäre hier vor Kurzem ein Tier verendet. Amy verzog bei dieser Vorstellung das Gesicht und eilte weiter.
Nach wenigen Metern stand sie vor einem umgekippten Holzfass, das nach altem Fisch roch. Amy zog ihr Kleid bis zu den Knien hoch und sprang darüber. Auf der anderen Seite musste sie kurz mit dem Gleichgewicht kämpfen. Das war der Moment, in dem sie die Schritte hörte. Sie kniff die Augen zusammen, um bei dem schummrigen Licht besser sehen zu können. Weder vor noch hinter ihr war jemand. Und auch die Schritte waren wieder verstummt. Du bist nur aufgeregt, Amy, sagte sie sich. Und jetzt hörst du schon Gespenster!
Als sie aus der Gasse schlüpfte, stolperte sie prompt in einen Schwarm Tauben hinein, der aufgeschreckt davonstob. Instinktiv schlug Amy die Hände vors Gesicht und wartete, bis das Geflatter um sie herum aufgehört hatte. Als sie anschließend wieder aufsah, stellte sie fest, dass sie sich auf der breiten Hauptstraße befand, über die sie erst am Sonntag mit der Droschke gefahren war. Amy konnte sogar den Fluss sehen.
Sie lächelte.
Von hier aus war es nicht mehr allzu weit bis nach Hause. Sie hastete los und … Lautes Hupen ließ sie mitten im Schritt erstarren. Ihr Herz schien für einen Moment auszusetzen und in ihrem linken Ohr klingelte es, als hätte jemand mit einer Trompete hineingetrötet. Was der Wahrheit recht nahe kam: Amy starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die riesige, knatternde Maschine auf vier Rädern, die nur einen halben Meter vor ihr stehen geblieben war und aus der es
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