Der 13. Engel
brummte und knurrte, als wäre eine wütende Meute Hunde unter der Motorhaube eingeschlossen.
Das muss ein Automobil sein, dachte Amy erschrocken. Ihr Vater hatte ihr davon erzählt und dass er glaubte, dass sie eines Tages die Kutschen ersetzen würden. Hoffentlich würde es dazu bloß niemals kommen.
»Was ist nun, junges Fräulein?«, rief der Fahrer. »Hast du da Wurzeln geschlagen? Husch, husch, aus dem Weg!«
Amy – blass wie eine Wand – stolperte zur Seite. Auf dem Gehsteig blieb sie wieder stehen und starrte fasziniert und entsetzt zugleich mit wild klopfendem Herzen dem schwarzen Ungetüm hinterher, das knurrend davonruckelte.
Über eineinhalb Stunden war Amy bereits unterwegs. Ihr war längst klar, dass sie es sicher niemals rechtzeitig zurück schaffen würde, bevor Tante Hester nach Hause kam. Sie hätte auf der Stelle umkehren müssen, aber dazu war sie nicht bereit. Es würden vielleicht Wochen vergehen, bevor sich ihr das nächste Mal eine solche Gelegenheit böte. Lieber nahm sie eine von Tante Hesters Schimpftiraden in Kauf.
Als Amy endlich vor dem kleinen Häuschen stand, in dem sie noch bis vor Kurzem gewohnt hatte, schnürte der Anblick ihr die Kehle zu. Hier war sie glücklich gewesen. So glücklich, wie man eben sein kann, wenn man seine Mutter schon so früh wie Amy verloren hatte. Aber es war wenigstens ein Zuhause gewesen, in dem sie geliebt und nicht als Missgeburt beschimpft wurde. Und nun drohte sie es für immer zu verlieren.
Amy näherte sich der Haustür. Sie war mit Holzbrettern vernagelt. Bestimmt war Tante Hester dafür verantwortlich. Zumindest konnte Amy so sicher sein, dass das, was sie suchte, sich noch im Haus befand. Dafür stellte sich ihr ein völlig anderes Problem: Wie sollte sie hineinkommen? Ihr Schlüssel nutzte ihr jetzt nichts mehr. Sie rüttelte an den Brettern. Doch die saßen viel zu fest. Auch die Fenster waren alle geschlossen. Vielleicht würde sie hinterm Haus mehr Glück haben. Ihr Vater ging zum Arbeiten gerne in den kleinen Garten und manchmal – wenn er tief in Gedanken versunken war – vergaß er beim Reinkommen, die Terrassentür richtig zu schließen. Amy versuchte sich daran zu erinnern, ob er am Sonntag auch im Garten gewesen war. Oder nur in seinem Arbeitszimmer. Sie wusste es nicht mehr. Zu viel war an diesem Tag passiert.
Amy lief um das Haus herum und hörte in der Ferne das Schlagen einer Kirchturmuhr. Vier Mal. So spät schon! Sie musste sich beeilen. Der Rückweg würde länger dauern, weil sie einen Umweg nehmen musste. Auf keinen Fall wollte sie den Lumpenkindern noch einmal begegnen.
Amy hatte Pech. Die Terrassentür war fest verschlossen. Da half auch kein Rütteln und Schimpfen. Kurzerhand hob sie einen der kleineren Kräutertöpfe auf, die auf der Terrasse standen, und schleuderte ihn gegen die Tür. Das Glas zersprang und machte dabei einen Höllenlärm. Hoffentlich hatten die Nachbarn nichts gehört!
Amy raffte ihr Kleid zusammen und stieg durch die eingeschlagene Tür. Sie musste vorsichtig sein, um sich an den scharfen Scherben nicht zu verletzen, die an einigen Stellen wie gläserne Haifischzähne aus dem Holzrahmen ragten. Sobald sie drin war, lief sie in den vorderen Bereich des Hauses, wo das Arbeitszimmer ihres Vaters lag. Es war ein kleiner Raum voll dunkler schwerer Möbel. Auf dem Boden stapelten sich Bücher und Zeitungsberge, sodass Amy aufpassen musste, wohin sie trat. Ihr Ziel war der große Schreibtisch vor dem Fenster. So etwas Wichtiges wie sein Notizbuch bewahrte ihr Vater sicher dort auf. Als sie sich setzte, fiel ihr Blick auf die aufgeschlagene Zeitung vom Sonntag. Einen der Artikel hatte ihr Vater mit einem fetten Kreuz aus schwarzer Tinte markiert. Neugierig begann Amy zu lesen.
Mysteriöse Entführungsfälle
Wie nun bekannt wurde, sind in den vergangenen drei Wochen einundzwanzig Frauen und Männer spurlos aus ihren Häusern und Wohnungen verschwunden. Zunächst vermutete die Polizei die Tat einer organisierten Verbrecherbande, die mit diesen Entführungen Lösegeld von den Familien der Opfer erpressen wollte. Jedoch sind bis zum jetzigen Zeitpunkt keine derartigen Forderungen gestellt worden.
Gegen die Entführungstheorie der Polizei spricht außerdem, dass nur wenige der verschwundenen Personen wohlhabenden Familien angehören. Ob es eine Verbindung zwischen den Entführungsopfern gibt, ist noch unklar.
Allerdings erreichte uns kurz vor Redaktionsschluss noch eine offizielle Stellungnahme aus
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