Der 13. Engel
über tausend Jahren bestieg der erste König den Thron. Er hatte zwölf Kinder, die er sehr liebte, und er war so ein weiser und gütiger Herrscher, dass dreizehn Engel ausgesandt wurden, um über ihn und seine Kinder zu wachen. Die Engel sollten sie vor allem Leid und Unglück bewahren, denn der König war ohne Frau und die Kinder ohne Mutter, da die Königin bei der Geburt des letzten Kindes gestorben war. So wurden die Engel zu den Hütern der königlichen Familie und sie brachten ihnen Glück und Wohlstand. Und wann immer der König oder eines seiner Kinder in Not geriet, griffen die Engel ein, um ihnen beizustehen.
Amy war enttäuscht. Diese Geschichte war nicht anders als die, die sie schon kannte. Seit vielen Generationen erzählten die Menschen sie sich, ohne zu wissen, ob all das wirklich einmal passiert war. Sie war auch der Grund, warum der Thron in der Kathedrale seit jeher von dreizehn steinernen Engeln bewacht wurde. Die Statuen sollten an die Legende erinnern, ihre Gegenwart bei der Krönung jedes neuen Königs seine Regentschaft mit Glück und Wohlstand segnen.
Amy knabberte an ihrer Unterlippe. Waren die Statuen deshalb gestohlen worden? Als Warnung an Prinz Henry, dass seine Herrschaft alles andere als glücklich verlaufen würde? Was könnten die Diebe damit bezwecken? Plötzlich richtete sie sich auf. Ob sie Prinz Henry dazu bringen wollten, dass er auf den Thron verzichtete? Aber das würde ja bedeuten, dass viel mehr als nur ein gewöhnlicher Diebstahl hinter dem Verschwinden der Engel steckte. Eine Verschwörung!
Amy schluckte. Wenn das stimmte, war ihr Vater etwas wirklich Großem auf der Spur gewesen. Kein Wunder, dass man ihn aus dem Weg haben wollte.
Amy ließ sich zurück auf den Schreibtischstuhl sinken. Niemals hätte sie vermutet, dass es bei dieser Sache um so etwas Ernstes gehen könnte. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Eine Verschwörung. Himmel! Wer weiß, wer alles darin verwickelt war! Und bestimmt waren diese Leute gefährlich. Alleine würde sie mit denen nie fertig werden. Und dabei wollte sie ihren Vater doch nur aus dem Gefängnis befreien. Ihre Augen wurden feucht. Nicht, Amy, ermahnte sie sich selber. Reiß dich zusammen! Sie holte tief Luft und merkte, wie das Zittern langsam nachließ. Gut so, dachte sie. Versuch erst einmal herauszufinden, um was es bei dieser Verschwörung geht. Dann kannst du immer noch entscheiden, was du tust.
Amy zog das Notizbuch ihres Vaters zu sich heran. Was könnte ihr Vater mit »Fluch« gemeint haben? War der Wind verflucht gewesen, der das Tor der Kathedrale aufgesprengt hatte? Da fiel ihr ein, dass sie einmal gehört hatte, dass manche Flüche sogar toten Dingen Leben einhauchen konnten. So wie bei diesen Mumien in den Pyramiden der Pharaonen. Vielleicht hatten die Diebe auf diese Weise die Engelsstatuen aus der Kathedrale fortgeschafft.
Das bringt doch alles nichts, dachte Amy im nächsten Augenblick gereizt. Was nützte es ihr zu wissen, wie die Engel verschwunden waren, wenn sie nicht die Namen derer kannte, die dafür verantwortlich waren? Nur, wie sollte sie die herauskriegen? Dafür musste sie erst einmal wissen, wer einen Vorteil davon hatte, wenn Prinz Henry abdankte. Das bedeutete wiederum, dass sie mit jemandem reden musste, der sich am Königshof auskannte.
Amy verdrehte die Augen. Es gab nur einen Menschen, den sie danach fragen konnte: ihre Tante. Und dieses Mal musste sie Amy zuhören, ob sie wollte oder nicht, schließlich ging es um eine Verschwörung gegen den zukünftigen König. Amy presste die Lippen zusammen. Erst einmal würde sie Tante Hester dazu bringen müssen, ihr zu glauben, und dafür brauchte sie Beweise.
Amy begann das Notizbuch zu durchforsten. Möglicherweise enthielt es Namen und Hinweise. Doch schon bald musste sie feststellen, dass ihr Vater in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend gewesen war. Entweder aus Vorsicht, falls sein Notizbuch in die falschen Hände geraten sollte, oder weil es ihm schlicht an Verdächtigen gemangelt hatte. Dafür stieß Amy auf einen weiteren, interessanten Eintrag:
Ich habe es schon immer gewusst, und dank der Hilfe meines alten Freundes Klytus habe ich endlich den Beweis für meine Theorie gefunden: Die Geschichte der Engel geht noch weiter.
Es gibt einen Teil aus dem Leben des ersten Königs, den die Menschen vergessen haben. Vielleicht auch vergessen wollten. Denn nicht alles, was er getan hat, war gütig und weise. In Klytus’ Bibliothek habe ich eine
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