Der 13. Engel
dem Schloss. Lord Winterhall, Erster Minister und engster Berater von Prinz Henry, teilte uns darin mit, dass man alles unternehmen werde, um diese armen Menschen zu finden, und wenn jeder Stein im Königreich einzeln umgedreht werden müsse.
Komisch, dachte Amy. Wieso hatte sie bisher nichts von diesen Entführungen gehört? Immerhin waren einundzwanzig Menschen spurlos verschwunden. So etwas gehörte eigentlich auf die Titelseite. Stattdessen ging dieser Artikel völlig zwischen den Berichten über die Vorbereitungen für die Krönungsfeierlichkeiten unter. Nun gut, vielleicht wollte man ja vermeiden, dass eine Panik unter der Bevölkerung ausbrach.
Amy konzentrierte sich nun auf die oberste Schublade des Schreibtisches und zog sie auf. Briefpapier und ein paar Umschläge. Das war alles. Mit der nächsten und übernächsten hatte sie auch kein Glück. »Mist«, murmelte Amy und knallte die letzte Schublade erbost zu. Kein Notizbuch.
Ein erschreckender Gedanke kam ihr. Was war, wenn ihr Vater es bei sich getragen hatte, als er verhaftet wurde? In diesem Fall wären seine Aufzeichnungen für sie verloren und schlimmer noch: Sie wären in den Händen seiner Ankläger! Vielleicht hatte er es aber auch nur gut versteckt. Sie ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. So viele Schränke mit Schubladen, Türen und kleinen Nischen … Wo sollte sie bloß anfangen?
Amy brauchte eine weitere Stunde, um das Notizbuch zu finden. Der Zufall kam ihr dabei zu Hilfe. Sie hatte gerade mehrere Bücher aus einem Regal genommen, um zu sehen, ob sich dahinter etwas verbarg, als ihr eines aus der Hand rutschte und zu Boden fiel. Als Amy es wieder aufheben wollte, purzelte das schwarze Notizbüchlein ihres Vaters heraus.
Das Gesicht am Fenster
Amy starrte auf das Buch, das sie gerade aufgehoben hatte. Es war hohl. Ihr Vater hatte ein Loch in die Seiten geschnitten, um darin seine Aufzeichnungen zu verstecken. Ein Buch in einem Buch – darauf wäre sie nie gekommen, und wahrscheinlich auch kein Polizist, selber wenn sie die Wohnung durchsucht hätten. Amy bückte sich nach dem Notizbüchlein und setzte sich damit an den Schreibtisch. Als sie die erste Seite aufschlug, zitterten ihre Finger, so aufgeregt war sie.
Eine winzige, verschnörkelte Handschrift in schwarzer Tinte zog sich über die ganze Seite. Amy begann zu lesen. Doch die ersten Seiten enthielten nur Notizen zu früheren Zeitungsartikeln ihres Vaters: über einen Bankraub, den er geholfen hatte aufzuklären, oder die Funktionsweise von Dampfschiffen und Automobilen, die den meisten Menschen rätselhafter erschienen als die großen Pyramiden der Pharaonen.
Amy musste bis zur Mitte vorblättern, bis sie auf einen Text über den Diebstahl der dreizehn Engelsstatuen stieß. Sie beugte sich vor. Es handelte sich bei den Einträgen um Augenzeugenberichte. Ihr Vater hatte eine Reihe von Männern und Frauen befragt, die in unmittelbarer Nähe der Kathedrale wohnten. Alle erzählten von dem gleichen Phänomen, das sie in der Nacht des Diebstahls geweckt hatte: Ein unheimlicher Wind, erfüllt von wispernden Stimmen, war durch die Straße gefegt, genau auf das Tor der Kathedrale zu. Mit einem Donnerschlag hatte er sie aufgesprengt. Dann war es plötzlich still geworden. Unheimlich still. Und Nebel war aufgezogen, dick wie Mehlsuppe, sodass man nicht mehr hatte erkennen können, was draußen auf der Straße vor sich ging. Wenig später war dann die Polizei eingetroffen, aber da waren die Engelsstatuen bereits spurlos verschwunden.
Amy hob den Kopf und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Was hatte es mit diesem unheimlichen Wind und diesem seltsamen Nebel auf sich? Das roch verdächtig nach Magie. Sie sah wieder auf das Notizbuch. Was war das? Ihr Vater hatte zwei Anmerkungen rechts neben den Text gekritzelt, so klein, dass sie ihr zunächst nicht aufgefallen waren. An der Stelle, wo es um den Wind ging, stand das Wort »Fluch«. Weiter unten hatte er »Ablenkungsmanöver« neben die Passage geschrieben, wo es um den Nebel ging.
Sie blätterte weiter.
Auf der nächsten Seite fand sich die uralte Legende, die davon berichtete, wie dreizehn Engel einst zu den Beschützern der königlichen Familie wurden. Jeder kannte sie. Auch Amy hatte sie schon oft gehört. Warum hatte sich ihr Vater also die Mühe gemacht, sie in sein Notizbuch zu schreiben? Es musste etwas zu bedeuten haben. Vielleicht war es eine andere Version der Sage, die niemand kannte?
Amy begann zu lesen.
Vor
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