Der 13. Engel
muss mich wohl geirrt haben.«
Ein Buch im Buch
Am Dienstag begann Mr Fraud um neun Uhr mit dem Unterricht. Um Punkt zwölf legte er eine erste Pause ein. Wie auf ein geheimes Zeichen hin öffnete sich die Tür und Tante Hester trat ein. Vor ihr schwebte ein Tablett mit zwei Tellern dünnem Gemüseeintopf, den Mr Fraud ablehnte.
Sobald Amy von dem Eintopf gekostet hatte, wünschte sie, sie hätte es ebenfalls getan. Das Gemüse war versalzen und schmeckte nach Fisch, obwohl keiner drin war. Amy musste jeden Bissen mühsam hinunterwürgen. Was blieb ihr sonst übrig? Sie hatte Hunger und etwas anderes würde sie von Tante Hester nicht bekommen.
Nach dem Mittagessen setzte Mr Fraud den Unterricht fort. Er wollte von Amy wissen, wie gut sie im Vorlesen war. Wahllos griff er ein Buch aus einem der vielen Regale, die sich entlang der Wände reihten, und legte es vor Amy auf den Tisch. Es war die Geschichte eines Waisenjungen, der Hunger und Prügel erleiden musste und gezwungen war, für eine Diebesbande zu arbeiten. Eine Dreiviertelstunde lang ließ Mr Fraud sie laut aus dem Buch vorlesen. Gelegentlich verbesserte er ihre Betonung, ansonsten lauschte er geradezu gebannt der Geschichte. »Wie grausam Menschen sein können, nicht wahr?«, sagte er, nachdem Amy das Buch zugeschlagen hatte. »Was glaubst du? Wird es ein gutes Ende mit dem Waisenjungen nehmen?«
»Das wäre nur gerecht, bei all den schlimmen Dingen, die ihm passiert sind«, sagte Amy.
Mr Fraud lachte inbrünstig. Tränen liefen ihm über die Wangen. Genauso abrupt, wie er in Gelächter ausgebrochen war, verstummte er wieder. Sein Blick wurde hart und kalt, als er sich zu Amy vorbeugte, um ihr direkt in die Augen zu sehen. »Eine Welt, in der Menschen das Sagen haben, wird nie gerecht sein.«
Als der Unterricht an diesem Tag endete, schwirrte Amy der Kopf von all den Dingen, die Mr Fraud ihr erzählt hatte. Erneut hatte er eine Lektion nach der anderen heruntergeleiert. Und sobald das letzte Wort verklungen war, hatte Amy das Gefühl, alles wieder vergessen zu haben.
Gleich nach dem Abendessen ging sie auf ihr Zimmer. Sie war so müde, dass sie nur ganz kurz an Finn dachte, der auch heute vergebens auf ihren Besuch gewartet hatte. Todmüde fiel sie ins Bett und war gleich darauf eingeschlafen.
In dieser Nacht träumte Amy von ihrem Vater. Sie sah ihn vor sich, wie er in einer kleinen Gefängniszelle zusammengekauert auf einem Lager aus schimmligem Stroh schlief. Ein eiskalter Wind pfiff durch das vergitterte Fenster und ließ ihn frösteln. Die grauen Steinwände waren so feucht, dass schleimige Algen darauf wucherten. Amy trat auf ihn zu, um ihm tröstend über die Stirn zu streicheln, aber ihre Hand glitt durch ihn hindurch, als wäre er ein Gespenst. Er wimmerte im Schlaf und rief ihren Namen. »Ich bin hier, hier bei dir«, antwortete Amy verzweifelt. »Wach doch auf, Papa!« Er hörte sie nicht, wälzte sich unruhig von einer Seite zur anderen. Wie krank er aussah! So blass. Und sein ganzer Körper zitterte, als würde er von Schüttelfrost geplagt. Oder von wilden Fieberträumen. Amy sank neben ihm auf die Knie und schluchzte. Sie wollte ihm so gern helfen und konnte es nicht. »Bitte, bitte«, flehte sie. »Gib nicht auf, Papa! Alles wird wieder gut!«
Amy weinte immer noch, als sie längst aufgewacht war. Obwohl es nur ein Albtraum gewesen war, spürte sie noch immer das Entsetzen, das diese Bilder in ihr ausgelöst hatten. Es fühlte sich wie die schlimmsten Bauchschmerzen an, die sie je gehabt hatte. Als hätte jemand einen gewaltigen Knoten in ihre Eingeweide gemacht, der sich langsam immer fester zusammenzog. So konnte es nicht weitergehen!
Amy richtete sich auf, schlang die Arme um die Beine und stützte das Kinn auf die Knie. Schweigend starrte sie in die Dunkelheit ihres Zimmers, die ihr nach dem Traum noch bedrückender schien als sonst. Sie musste ihren Vater aus dem Gefängnis holen.
Amy dachte an die letzten Wochen vor seiner Verhaftung zurück. Er hatte herauszufinden versucht, wer die dreizehn Engelsstatuen aus der Kathedrale gestohlen hatte. Mehr hatte er ihr nicht über seinen letzten Fall erzählen wollen; wahrscheinlich hatte er es für zu gefährlich gehalten. Das war die einzig logische Erklärung. Er liebte sie schließlich, und darum hätte er niemals etwas so Dummes getan, dass er dafür ins Gefängnis geworfen werden konnte. Was war also wirklich passiert?
Amy kratzte sich an der Nase. Konnte er herausgefunden haben,
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