Der 13. Engel
die Sucherei war sie ins Schwitzen geraten und nun fror sie umso heftiger.
Ihr Blick huschte hinüber zu dem stinkenden Kleiderberg. Vielleicht fand sich darunter etwas, womit sie sich ein Lager für die Nacht bauen konnte. Sie stand auf, um nachzusehen. Doch die Textilien stanken unerträglich nach Ratten und waren zudem pitschnass. Als Amy eines der Kleider mit spitzen Fingern anhob, riss es augenblicklich entzwei, so marode war der Stoff. Amy ließ es wieder los. Das Kleid musste einmal einem Mädchen gehört haben, das nicht viel älter als sie selber gewesen sein konnte. Neugierig geworden, schob Amy die Fetzen mit dem Fuß auseinander. Ein paar Kinderschuhe und Hüte kamen zum Vorschein.
Tante Hester hatte nie eigene Kinder gehabt, was taten dann diese Sachen hier im Keller? Nun lief Amy zu einer der Truhen und schlug den Deckel auf. Puppen. In einer anderen Kiste entdeckte sie Holzspielzeug. Das wurde ja immer seltsamer! Amy kramte weiter und stieß schließlich auf eine schwarz angelaufene Silberschatulle. Der filigrane Verschluss klemmte, weshalb sie Mühe hatte, ihn zu öffnen. Als er nachgab, purzelten ein paar vergilbte Briefe heraus.
Die Kerze war bereits bis zur Hälfte heruntergebrannt, als Amy mit dem Lesen der Briefe fertig war. Langsam ließ sie den letzten in ihren Schoß sinken. Endlich verstand sie, was mit Tante Hester los war. All die Sachen, die in diesem Keller verrotteten, hatten einmal Amys Mutter gehört. Andenken aus ihrer Kindheit. Tante Hester hatte sie hierher verbannt, weil sie schrecklich wütend auf ihre Schwester gewesen war, als diese vor so langer Zeit Rufus Tallquist geheiratet hatte.
Sie hasst uns, weil sie glaubt, dass wir ihr den einzigen Menschen genommen haben, der ihr etwas bedeutet hatte, dachte Amy betroffen.
In ihren Briefen, die Hester aber niemals abgeschickt hatte, flehte sie Amys Mutter an, Rufus Tallquist zu verlassen, weil er kaum Geld besaß und ihr niemals den Lebensstil würde bieten können, den sie gewohnt war. Nichts als Vorwände, dachte Amy, die ihre Tante endlich zu verstehen glaubte. In Wahrheit hatte sie die Heirat nur nicht gewollt, weil sie Furcht vor dem Alleinsein hatte. Wie sie selber schrieb, war sie nie so hübsch und beliebt wie ihre Schwester gewesen. Als diese Hochzeit schließlich stattfand, musste für Tante Hester eine Welt zusammengebrochen sein. Amy seufzte. Das war also der Grund, weshalb sie so verbiestert geworden war.
Plötzlich tat sie Amy sogar ein winziges bisschen leid.
Ihre Tante hatte sich den Verschwörern angeschlossen, weil sie ihr Reichtum und Macht versprochen hatten. Vielleicht glaubte sie sogar wirklich, dass Lord Winterhall einen besseren König als der junge Prinz Henry abgäbe. Aber etwas sagte Amy, dass es noch einen weiteren Grund gab: Tante Hester wollte nicht länger alleine sein, sie wollte wieder zu jemandem gehören. Wie verzweifelt musste sie gewesen sein, dass sie sich diesen Verrätern angeschlossen hatte. Amy ballte die Hände zu Fäusten. Warum war sie in all den Jahren nie zu ihnen gekommen, um mit ihnen zu reden? Dann wäre mit Sicherheit vieles anders gekommen.
In diesem Moment gab das Schloss der Kellertür ein protestierendes Quietschen von sich. Amy hob das Gesicht und blickte mit ausdrucksloser Miene in Richtung Treppe, die in pechschwarzer Dunkelheit lag. War das etwa Tante Hester? Oder die Frau mit dem Porzellangesicht? Vielleicht hatten sie schon die Geduld verloren und kamen, um Amy doch noch mit anderen Methoden zum Reden zu bringen. Das Knarren der Treppenstufen verriet, dass sich ihr jemand näherte. Wenn sie doch nur erkennen könnte, wer es war!
Mit klopfendem Herzen fragte Amy: »Wer ist da?«
Keine Antwort.
Eine schattenhafte Gestalt tauchte am Ende der Treppe auf. Für Tante Hester war sie zu klein. »Mr Fraud?«, fragte Amy mit zittriger Stimme. »Sind Sie es, Sir?«
»Ich bin’s, Finn.«
»Oh Finn.« Amy stürzte sich auf ihn und schlang die Arme um seinen Hals. »Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Sag jetzt nicht, du hast unsere Verabredung vergessen«, erwiderte er und versuchte, sich mit rosig glühenden Wangen aus ihrer Umarmung zu befreien. »Wir wollten uns heute um Mitternacht am Teich treffen.«
»Das Mondfeuer, natürlich! Daran hatte ich in der Aufregung nicht mehr gedacht.«
»Als du nicht aufgetaucht bist, bin ich zum Haus geschlichen, weil ich dachte, du hättest verschlafen«, erklärte Finn. »Dann sah ich im Wohnzimmer Licht und bin hin zum
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