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Der 13. Engel

Der 13. Engel

Titel: Der 13. Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Borlik
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der Mitte des Platzes, in dem ein paar aufgeplusterte Tauben ihr Morgenbad nahmen. In diesem Teil der Stadt war sie noch nie gewesen.
    »Ich weiß, wo wir sind«, sagte Finn, der ihren Blick bemerkt haben musste. »Das ist der König-George-Platz. Samstags wird hier immer Markt abgehalten. Dann kommen die Bauern aus den umliegenden Grafschaften in die Stadt, um ihre Waren anzubieten. Früher bin ich öfter hierhergekommen, um … um meiner Mutter bei den Einkäufen zu helfen.«
    »Klingt so, als kämst du aus einer Großfamilie.«
    Finn lachte, ging aber nicht darauf ein. »Wo wir schon mal beim Essen sind, mein Magen knurrt wie ein Bär.«
    Amy holte etwas von dem Brot und dem Käse hervor, die sie aus Tante Hesters Vorratskammer genommen hatten, und teilte es zwischen ihnen auf. Finn biss herzhaft in beides hinein. Dann sagte er schmatzend: »Von hier isch es nisch mehr weit bisch zum Flussch. Dort isch auch dasch Verschteck, von dem isch geschprochen hab.«
    Sie gingen los. Zum Glück mussten sie sich jetzt nicht mehr so beeilen, denn Amys Füße fühlten sich an, als wären sie zwei große Blasen aus purem Schmerz. Sie humpelte ein wenig, ansonsten ließ sie sich nichts anmerken. Es gab Schlimmeres. Von einem Wasserspeier erschlagen zu werden etwa.
    Als der Morgen vollends dämmerte, tauchte er den Himmel über der Stadt in ein flammendes Rosa, das von orangen Schlieren durchzogen war. Erst jetzt fiel Amy auf, wie jämmerlich sie beide ausschauten. In Gesicht und Haar hing feiner roter Ziegelstaub und ihre Kleidung war schlammverkrustet. Sie sahen aus, als hätten sie mindestens einen Monat lang nicht gebadet. Dennoch starrte sie kein Einziger der müde dreinblickenden Männer und Frauen an, die ihnen auf ihrem Weg zur Arbeit begegneten. In ihren Augen wirkten sie wohl nicht anders als die Lumpenkinder, von denen es in der Stadt wimmelte.
    Sie lächelte plötzlich. Eigentlich war diese Tarnung gar nicht so schlecht.
    Finn führte sie geradewegs zu den Docks. Der Gestank, der vom Fluss zu ihnen herüberwehte, war kaum auszuhalten. Amy hielt sich die Hand vor die Nase und atmete durch den Mund.
    »Das kommt von den Färbereien«, sagte Finn und verzog das Gesicht. »Sie leiten ihre Abwässer in den Fluss.«
    Die Docks waren Teil des Hafenviertels, wo jeden Tag Handelsschiffe aus dem fernen Orient und anderen Teilen der Welt einliefen, die die kostbaren Öle, Gewürze und Stoffe brachten, die man nur in der Carrodsgasse zu kaufen bekam. Wohnhäuser gab es hier keine, dafür mehr Lagerhallen, als man zählen konnte. Meist waren es einfache rote Ziegelbauten ohne Fenster und mit einem zweiflügeligen Tor an der Vorderseite. Manche wurden von finster dreinblickenden Männern bewacht, was auf den hohen Wert der eingelagerten Güter schließen ließ. Hier und da stand vor einem offenen Tor ein Fuhrwerk, vor das ein kräftiger Gaul gespannt war und auf dessen Ladefläche Arbeiter Fässer und Holzkisten verluden.
    »Gleich sind wir da«, sagte Finn zu Amy, die sich nervös umblickte. Dieser Ort gefiel ihr überhaupt nicht. Die Männer guckten alle drein, als würden sie Kinder zum Frühstück verspeisen. Ob es wirklich eine so gute Idee war, sich ausgerechnet in dieser Gegend vor Tante Hester und der Frau mit dem Porzellangesicht zu verbergen?
    »Was … ist das für ein Versteck?«, fragte sie.
    »Wirst du gleich sehen.«
    Sie bogen in ein Gässchen ab, das so eng war, dass sie nur hintereinander durchgehen konnten. Misstrauisch beäugte Amy die Mauern, die zu ihren Seiten in die Höhe wuchsen. Sie stellte sich vor, wie sie plötzlich in Bewegung gerieten und sich auf sie zuschoben. Gerade wollte sie Finn zur Eile drängen, als das Gässchen sich zu einem kleinen, mit Unkraut überwucherten Hof öffnete.
    »Da sind wir«, verkündete er.
    Amy trat an ihm vorbei und sah sich um. Auf der anderen Seite des Hofes erhob sich eine große Halle mit mehreren kleinen Nebengebäuden. Einige Fenster waren eingeworfen und vielerorts blätterte die graubraune Farbe von der Fassade ab. Ein verblassendes Schild über dem Eingang verriet, dass es sich um eine Weberei handelte. Allerdings musste sie schon vor langer Zeit aufgegeben worden sein, so heruntergekommen, wie hier alles war.
    »Als ich noch nicht für Meister Chang gearbeitet habe, bin ich früher öfter mit meinen Freunden hergekommen. Es war so etwas wie unser Geheimversteck.« Finns Wangen verfärbten sich leicht. »Na ja, aber das ist schon lange her. Wollen wir …«
    Amy

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