Der 13. Engel
räderloses Fuhrwerk, das eine Laderampe blockierte. Der Hof selber war nach allen Seiten hin durch hohe Ziegelsteinmauern abgeschüttet und besaß nur ein einziges Tor, dessen linker Flügel bedrohlich schief in den Angeln hing.
»Warum zeigst du mir das?«
»Zwei Fluchtwege«, erklärte Finn. »Wenn sie kommen, können wir entweder über den Hof oder durch die Weberei fliehen.«
Amy sah ihn zweifelnd an. »Tante Hester und ihre Freunde sind nicht dumm …«
»Dafür haben wir Fluchtweg Nummer drei«, unterbrach er sie grinsend. »Gleich nebenan liegt die Waschküche. Sie hat einen eigenen Schmutzwasserabfluss, der direkt zum Fluss führt. Gerade groß genug, dass wir hindurchkriechen können, die Erwachsenen aber nicht.«
»Du musst früher aber ziemlich oft hier gewesen sein«, sagte Amy und drehte sich zu dem kaputten Sofa, wodurch sie nicht mitbekam, wie Finns Wangen sich verfärbten. »Endlich sitzen.« Amy ließ sich auf das Sofa plumpsen und wirbelte eine Staubwolke auf. »So ein Mi … Ha-hatschi! «
»Wie wäre es mit einem Feuer?«, fragte Finn.
Amy nickte, dann quälte sie sich noch einmal hoch und half Finn, Stücke des zertrümmerten Schranks zum Kamin zu schleppen, wobei sie leise vor sich hin grummelte. Überall brannte, zwickte und stach es in ihrem Körper. In ein paar Stunden würde daraus ein ausgewachsener Muskelkater geworden sein. Wahrscheinlich konnte sie dann nicht einmal mehr den kleinen Zeh bewegen, ohne vor Schmerz zu wimmern.
Wenigstens machte das Feuer keine Probleme. Das Holz war so trocken, dass es wie Zunder brannte. Innerhalb von kurzer Zeit füllte sich der Raum mit einer behaglichen Wärme.
»Hilfst du mir mal, Amy, wir rücken das Sofa näher ans Feuer.«
Auch das noch, dachte Amy und packte mit an.
Sobald sie saß und die schmerzenden Füße gemütlich den knisternden Flammen entgegenreckte, fiel die Anspannung der vergangenen Stunden von ihr ab. Mit einem behaglichen Seufzer kuschelte sie sich in eine Ecke des Sofas, ließ den Kopf auf die gepolsterte Lehne sinken und starrte in das knisternde Feuer, von dem ihr Blick magisch angezogen wurde.
»Müde, hm?«, fragte Finn.
Amy versuchte zu nicken, doch plötzlich war ihr selbst das zu viel. Die wohlige Wärme des Feuers hatte sie ganz schläfrig gemacht.
Finn, der den Kopf ebenfalls zurückgelegt hatte, drehte ihr das Gesicht zu. »Wie geht es jetzt weiter?«
»Schlafen«, sagte Amy, der die Augen zufielen.
»Das meinte ich nicht …«
»Ich bin so müde. Lass uns später … reden und Pläne … schmieden. Jetzt will nisch mhskm …« Ihre Worte verloren sich in einem unverständlichen Gemurmel.
Zwei Flickenmäntel und viele Fragen
Wo bin ich? Amy blickte sich erschrocken in dem dämmrigen Zimmer um. Doch schon im nächsten Moment erinnerte sie sich wieder an alles. Noch immer nicht ganz wach starrte sie eine Weile in die orangeroten Flämmchen, die im verrußten Kamin leise zischten und knisterten. Das Feuer war kleiner geworden, die Holzscheite fast völlig zu Asche verbrannt. Plötzlich runzelte Amy die Stirn. Der Platz neben ihr auf dem Sofa war leer.
Sie kämpfte sich in eine aufrechte Position. Der Muskelkater war nicht so schlimm geworden, wie sie befürchtet hatte, dennoch fühlten sich ihre Beine an, als wäre sie selber im Schlaf noch weitergelaufen. Das Zimmer war leer und voll unheimlicher Schatten, die über die alten Bilder und die Vertäfelung tanzten. Das kommt nur vom Feuer, sagte sich Amy, trotzdem musste sie sofort wieder an ihren Albtraum mit der Riesenratte denken.
Ihr Blick glitt zum Fenster. Es war wieder dunkel. Sie musste den ganzen Tag verschlafen haben. Es überraschte sie nicht wirklich. Immerhin war sie beinahe einen ganzen Tag und eine Nacht lang auf den Beinen gewesen.
Wo war Finn?
Sie schlurfte steifbeinig zur Tür und steckte den Kopf in den düsteren Flur mit den vielen Türen. »Finn?«, rief sie eingeschüchtert. Schweigen. Noch einmal: »Finn, wo bist du?«
Hatte er es mit der Angst zu tun bekommen und sie alleinegelassen? Amy quälte plötzlich ein ganz mieses Gefühl. In ihrer Nähe wäre er in größerer Gefahr, als wenn er versuchen würde, sich alleine durchzuschlagen. Sie schluckte. Vielleicht war er auch nur mal rausgegangen, um frische Luft zu schnappen. Oder um nachzuschauen, ob sie nicht entdeckt worden waren. Aber warum hatte er sie dann nicht geweckt und ihr Bescheid gesagt? Ihm musste doch klar sein, dass sie sich Sorgen machen würde, wenn sie aufwachte
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