Der 13. Engel
und er nicht da war. Langsam schloss sie die Tür, die leise quietschend ins Schloss fiel. Komm bloß wieder, Finn!, flehte sie in Gedanken.
Alleine die Vorstellung, schon wieder verraten worden zu sein, löste Entsetzen bei ihr aus. Außerdem war ihr die verlassene Weberei nicht geheuer. Wie jedes leer stehende Haus schien sie voller dunkler Träume zu stecken, die in einen hineingekrochen, um die Fantasie mit unheimlichen Bildern zu bevölkern. Amy schauderte. Wer wusste, was sonst noch in diesem alten Gemäuer Unterschlupf gesucht hatte.
Auf dem Rückweg zum Sofa hob sie etwas von dem Holz des zerschmetterten Schranks auf und warf es in den Kamin. Funken stoben. Es dauerte nicht lange, bis die Flammen prasselnd auf den Nachschub übersprangen und es dadurch ein wenig heller im Zimmer wurde.
Amy zog den schmutzigen Mantel enger um sich, den sie seit gestern nicht abgelegt hatte. Ihr war zwar nicht kalt, aber seine Wärme hatte etwas Tröstliches an sich. Sie ließ sich wieder auf das Sofa sinken. Tränen stiegen ihr in die Augen. Nicht du auch noch, Finn! Sie presste die Lippen fest aufeinander, um nicht laut aufzuschluchzen. Das Einzige, was sie jetzt machen konnte, war zu warten. Wie spät es wohl war? Amy lauschte. Kein Glockenschlag. Nicht jetzt und auch nicht später. Bestimmt eine Stunde verging, ohne dass Finn zurückgekehrt wäre. Ihr Magen hatte zu knurren begonnen, doch als sie sich nach ihrem Vorratsbeutel umsah, musste sie feststellen, dass auch der verschwunden war. Das ungute Gefühl in ihrem Bauch verstärkte sich. Finn hatte sie also alleinegelassen.
Mit einem dumpfen Knall schlug plötzlich die Tür gegen die holzvertäfelte Wand. »Bin wieder zurück«, verkündete Finn frohgelaunt. »Und du bist auch schon wach. Na bestens. Ich hab nämlich eine Überraschung!«
Bei seinem Erscheinen war Amy heftig zusammengezuckt, gleichzeitig hatte ihr Herz einen freudigen Hüpfer getan. Rasch fuhr sie sich mit dem Ärmel des Mantels über das Gesicht. Sie wollte nicht, dass er sah, dass sie geweint hatte. »Wo bist du gewesen?«, fauchte sie ihn an.
Finn erstarrte mitten im Schritt. »Ich … ich war …«
»Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Tu so etwas nie wieder! Geh nie wieder weg, ohne mir etwas zu sagen!«
Er nickte hastig.
»Versprich es!«
»Ich, äh, verspreche es«, sagte er beklommen. Dann fragte er: »Ist alles in Ordnung bei dir?«
Amy lächelte zaghaft. »Jetzt schon.« Sie deutete auf die braunen Stofffetzen über seinem rechten Arm, die mit allerlei Flicken versehen waren. »Was ist das?«
»Zwei alte Mäntel, deiner sieht ziemlich mitgenommen aus und ich hab gar keinen. Und dann hab ich uns noch das hier mitgebracht.« Er warf ihr den Vorratsbeutel zu, der nun wieder prall gefüllt war. Amy öffnete ihn. Der Duft von süßen Brötchen und frisch gebackenem Brot strömte ihr in die Nase. Verblüfft zog sie die Brauen hoch. »Wo hast du das her?«
Finn kratzte sich verlegen am Kopf. »Ist doch egal, oder? Hauptsache, wir haben was zu essen.«
»Hast du das etwa geklaut?«
»Und wenn schon«, gab er schnippisch zurück. »Früher …« Er biss sich auf die Zunge.
»Ja?«
»Ach, nichts«, brummte er. »Was kümmert es dich überhaupt, wo ich es herhabe? In unserer Situation können wir nicht allzu wählerisch sein, also halt mir jetzt bloß keine Predigt!«
Amy warf ihm einen vernichtenden Blick zu, sein Tonfall ärgerte sie, obwohl sie wusste, dass er recht hatte. Sie besaßen keinen müden Penny und irgendetwas mussten sie essen. »Tut mir leid«, presste sie zerknirscht hervor und bemühte sich um ein versöhnliches Lächeln. Finn sah beleidigt weg. Nicht auch das noch, dachte Amy genervt. Sie holte eins der Brötchen aus dem Beutel und schnupperte daran. »Hm, das riecht wirklich köstlich und ich bin halb am Verhungern. Was ist mit dir?«
Finn reagierte nicht.
Amy verdrehte die Augen. Wollte er etwa den ganzen Abend schmollen? Da kam ihr eine Idee. »Möchtest du lieber Tee oder Champagner zum Abendessen, Euer Gnaden?«
»Was redest du da?«
»Kaviar ist leider ausgegangen. Ich könnte jedoch …«
Finn drehte sich um. »Austern«, sagte er. »Mit einem Spritzer Zitrone, Mylady. Mehr verlange ich nicht.«
Amy blickte ihn in gespielter Ratlosigkeit an. »Die Austern hat schon die Köchin verspeist. Nun denn, wie wäre es mit einem Brötchen?«
»Zur Not tut’s das auch.« Finn seufzte ergeben.
»Weißt du, was jetzt toll wäre? Eine Tasse heißer
Weitere Kostenlose Bücher