Der 13. Engel
wollen.«
»Verlassen würde ich mich nicht drauf«, sagte Amy. »Lucia ist zu allem fähig. Sie hat auch schon versucht, uns umzubringen.« Sie schauderte leicht.
»Dann willst du lieber hierbleiben und dich verstecken?«
Amy schüttelte wütend den Kopf. »Die haben meinen Vater ins Gefängnis geworfen! Und nun schwebt er wegen ihnen in Lebensgefahr!«
Finn zurrte seinen Mantel zu. »Na, dann kann’s ja losgehen.«
Sobald sie aufgebrochen waren, meldete sich Amys Muskelkater zurück. Er war zwar schon besser geworden, aber ein paar Tage lang würde sie noch ihre Freude daran haben. Auch Finn verzog hin und wieder das Gesicht, wenn er meinte, dass Amy es nicht bemerkte. Doch sie tat es und grinste dann jedes Mal still in sich hinein. Typisch Jungs! Immer wollten sie die Helden spielen.
Als sie in die Carrodsgasse einbogen, war es so früh, dass die meisten Geschäfte gerade erst öffneten. Noch war nicht viel los. Ein paar vereinzelte Kunden betrachteten die Auslagen in den Schaufenstern, meist ältere Damen in weiten, mit Pelzkrägen besetzten Mänteln, die Amy und Finn aufgrund ihrer ärmlichen Kleidung mit unverhohlenem Misstrauen, zum Teil sogar Ekel in den Augen begegneten. Diese Blicke gaben Amy das Gefühl, klein, schäbig und unbedeutend zu sein. Sich dafür schämen zu müssen, was sie war. Nun begriff sie, wie sich die Lumpenkinder fühlten, wenn sie solche Menschen um Geld anbettelten. Kein Wunder, dass sie Amy verhöhnt und verspottet hatten, als sie sich in ihren feinen Kleidern in ihr Viertel gewagt hatte.
»Dort vorne ist schon ›Gibbons Weinhandlung‹«, sagte sie zu Finn. »Das letzte Mal hat Cornelius nicht weit davon entfernt seine Zaubertricks vorgeführt.«
Finn reckte den Hals. »Ich kann niemanden sehen, der einem Gaukler ähnlich sieht. Nur diese, äh, alte, äh, Frau, die an dem Laternenfahl lehnt.«
Amy wusste sofort, was Finn hatte zögern lassen. Diese Frau war nicht alt, sondern urururalt. Zudem sah sie aus, als wäre sie geradewegs einem Märchenbuch über böse Hexen entstiegen. Das Gesicht war runzelig und dreckverkrustet. Auf der Nase, die krumm und viel zu lang war, thronte eine hässliche Warze und das graue Haar klebte ihr in fettigen Strähnen am Kopf. Das einzig Schöne an ihr war ein Blütenkranz aus blauen Kornblumen, der ihren Kopf schmückte.
»Wir sollten sie nach diesem Cornelius fragen«, schlug Finn vor. »Vielleicht kennt sie ihn.«
»Ich denk nicht, dass sie was weiß«, sagte Amy, die sich ein wenig vor der Alten fürchtete.
»Was kann es schon schaden?«, entgegnete Finn. »Lass es uns versuchen.«
»Also schön, meinetwegen.«
Just in diesem Moment wandte ihnen die Alte das Gesicht zu, als hätte sie ihr Gespräch belauscht – was eigentlich nicht sein konnte, da sie noch zu weit weg waren –, und schickte ihnen ein Grinsen entgegen, das zwei Reihen braungelber Stummelzähne entblößte.
Amy schüttelte es, dennoch näherten sie sich der Alte weiter. »Wir suchen jemanden«, sagte sie widerstrebend. »Er heißt Cornelius und arbeitet als Straßengaukler. Vor ein paar Tagen …«
»Ah ja, der gute Cornelius.«
»Dann wissen Sie also, wo wir ihn finden können?«, platzte Finn hoffnungsfroh heraus.
Die Alte wandte ihm das runzelige Gesicht zu. »Womöglich tue ich das, aber warum sollte ich es euch verraten?«
»Wir müssen ganz dringend mit ihm sprechen«, sagte Amy aufgebracht. »Es ist wirklich wichtig!«
»Ihr seid also Freunde von Cornelius?«
Amy nickte aufgeregt. Endlich hatten sie mal Glück!
»Freunde, so, so.« Die Alte wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen, als dächte sie über die Bedeutung dieses Wortes nach. Schließlich sagte sie: »Wenn ihr seine Freunde seid, warum wisst ihr dann nicht, wo er wohnt? Ha, ihr seid mir auf den Leim gegangen, Lügenpack! Was wollt ihr wirklich von ihm? Arbeitet ihr etwa für diese …« Sie verstummte abrupt und blickte verstohlen in die Runde. So, als wäre ihr fast etwas herausgerutscht, worüber ihr verboten war, zu reden.
»Sie … Sie wissen Bescheid über die Verschwörung?« Amy riss die Augen auf. »Sie gehören zu ihnen? Zu Cornelius und den anderen, ja? Bitte bringen Sie uns sofort zu ihm!«
»Psst.« Die Alte verschloss ihr mit dem Zeigefinger die Lippen. »Nicht so laut, dummes Gör!« Unruhig huschten ihre Augen die Straße auf und ab. »Uns war klar, dass du wieder aufkreuzen würdest. Dabei hatten wir dich gewarnt. Du solltest dich doch aus allem heraushalten.«
»Das
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