Der 18 Schluessel
kommen kaum noch nach, die Toten zu verbrennen. Überall in den Straßen liegen Leichen, und die Hitze lässt sie aufquellen. Ihre giftigen Dämpfe verseuchen die Luft. Die Hunde fressen das Fleisch der Toten und nehmen die faulen Winde auf. Das ist kein Ort für eine Braut, Hannah! Ich verbiete dir, zu gehen.“ Kurz maßen wir uns mit Blicken, dann gab sie nach – das tat sie eigentlich immer. Sie war stur, aber nicht dumm. Hannah zog sich den Schleier vom Kopf, sodass ich ihr rotgoldenes Haar sehen konnte. Trotzig reckte sie mir ihr Kinn entgegen. „Bald kannst du mir gar nichts mehr verbieten, Daniel! Und darüber bin ich froh, selbst wenn ich dafür den alten Savelad heiraten muss!“ Sie wandte sich um und ließ mich stehen. Dann verschwand sie wieder im Haus des Rabbiners.
Grethe, seine Frau, trat über ihre Schwelle, während Hannah an ihr vorbei lief, und winkte mich zu sich heran. In der Hand hielt sie einen Eimer mit Küchenabfällen für den Misthaufen neben dem Haus. Fliegen und Insekten umsummten ihn, und Grethe schlug mit den Händen nach ihnen. Sie war als Weib des Rabbis in der Gemeinschaft hoch angesehen, aber sie besaß auch ein freundliches Gemüt, das es den Menschen leicht machte, sich ihr anzuvertrauen. Ich ging zu ihr, Grethe wischte sich über das von der Hitze verschwitzte Gesicht. Ein starker Schweißgeruch entströmte ihrem Körper. Sie war eine kräftige Frau, nicht schön, aber fleißig, und sie hatte sechs Kinder geboren, von denen vier das Kleinkindalter überlebt hatten. Eines war fast zur gleichen Zeit wie Hannahs Eltern im letzten Jahr von der Pestilenz geholt worden. Jetzt blieben ihr noch drei Kinder, doch Grethes Glaube war so unerschütterlich, dass sie ihren Lebensmut auch in schweren Zeiten nicht verlor.
Entschlossen stellte sie den Eimer neben die Türschwelle und stemmte die Hände in ihre breiten Hüften. „Schabbat Schalom, Daniel. Es ist Samstag, und wir sollten alle den Sabbat begehen und uns auf Hannahs Hochzeitsfest freuen.“ Sie seufzte vernehmlich, was ihre Art war, etwas ihr Unangenehmes anzusprechen. „Aber niemand ist fröhlich, und es liegt nicht allein am Großen Sterben, mit dem Ha-Schem uns prüft.“ Grethe nickte in die Richtung, in der Hannah verschwunden war. „Wir haben alle geglaubt, dass ihr heiraten würdet, und Hannah wohl am meisten. Ich kann ihr nicht verdenken, dass sie enttäuscht ist. Es wäre nur vernünftig gewesen, weil du doch ohnehin für sie aufkommst.“
Grethe hatte ausgesprochen, was bisher niemand gewagt hatte mir zu sagen. Hannah lebte seit dem Tod ihrer Eltern mit der Sippe des Rabbis, obgleich ich die Mitgift für ihre Hochzeit gestellt hatte. Ich war in ihr Leben getreten wie ein Wunder, mit dem niemand gerechnet hatte – der fremde Verwandte aus Basel, der von Hannahs Unglück gehört hatte, und sich ihrer annahm. Trotzdem wäre es undenkbar gewesen, dass sie bei mir, einem unverheirateten Mann wohnte. Darüber war ich froh, denn nur so konnte ich ungestört nachts meine Arbeit tun, ohne dass man mir Fragen stellte, die ich nicht beantworten konnte. „Ich bin ihr Verwandter, Grethe.“
Sie blies eine Strähne ihres verschwitzten Haares aus dem Gesicht, die sich unter ihrer Haube gelöst hatte. „Aber nur ihr Vetter im zweiten Grad - und du bist unverheiratet.“ Sie kniff die Augen zusammen, als wolle sie eine Bestätigung von mir hören. „Nicht zu heiraten ist gegen Sein Gebot. Und ich sehe doch, dass du nachts nicht schlafen kannst. Ständig sitzt du an deinem Schreibpult. Das ganze Viertel redet über deine Schlaflosigkeit. Eine gute Frau würde dich auf andere Gedanken bringen, eine Familie dein Gemüt aufhellen. Du magst Hannah doch. Warum hast du sie dem alten Savelad überlassen? Er ist Witwer und hat genügend Kinder.“ Grethe lief rot an und legte sich die Hände auf den Mund, um sich für ihre lästerlichen Worte zu entschuldigen. Dann sprach sie weiter. „Ich weiß, es ist nicht recht so zu sprechen. Aber ich sehe Hannahs Unglück, und ich sehe, dass du sie ansiehst, wie ein Mann eine Frau ansieht ... und ich verstehe es einfach nicht!“
Was sollte ich ihr antworten? Dass mein Körper Hannah durchaus begehrte, dass dieser verführerische Gedanke sie selbst zu heiraten, mich immer wieder geplagt hatte in den letzten Monaten, während ich nachts die Zeilen des geheimen Buches auf Pergament schrieb? Aber ich war nicht wie sie. Hätte ich mich von meinesgleichen abwenden sollen für die wenigen
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