Der 21. Juli
Trümmer des vielleicht letzten Bombenangriffs. Gottlieb sprach hastig, seine Hände zitterten. Er sah zerschlagen aus, hatte wohl die letzten Nächte wenig geschlafen. In der Wohnung warf Werdin einen Blick auf die Papiere, sie waren perfekt. Die Kettenhunde!
würden daran so wenig auszusetzen haben wie die Polizei. Gottlieb verabschiedete sich hastig. Er hat Angst, mit mir zusammen erwischt zu werden, dachte Werdin. Doch trotz seiner Angst hatte er ihnen die Papiere gebracht.
Werdin packte nur wenig ein, dann fuhren sie mit der S-Bahn zum Bahnhof Zoo. Sie wollten am nächsten Tag in Köln sein. Irgendwo musste es einen Weg über den Rhein geben. Und irgendwo mussten sie durch die deutsche Front. Werdin hoffte, dass die Soldaten nun weniger wachsam waren. Aber man konnte es nicht wissen. Möglich, dass die Westalliierten nun erst recht einen schnellen Sieg über Deutschland erzwingen wollten in der Hoffnung, dass Berlin die Uranbomben ausgingen. Was war das größere Risiko? Der Versuch, Deutschland jetzt zu schlagen, auch wenn die Bombe auf Minsk nicht die Einzige war, oder den Krieg zu beenden und sich erpressen zu lassen? Wenn Amerikaner, Engländer und Russen verhandeln wollten, weil eine Uranbombe Minsk zerstört hatte, musste da in Berlin nicht die Überzeugung wachsen, es sei mehr zu holen als ein Remis?
Kein Tiefflieger störte die Bahnfahrt von Berlin nach Köln. Werdin und Irma wurden nur einmal nachlässig kontrolliert. Fast schien es, als würde das Schicksal ihre Flucht fordern und zugleich begünstigen. Sie fanden in Köln wie durch ein Wunder eine Pension mitten in einem Trümmerfeld. Hier wollten sie die Nacht verbringen, am nächsten Morgen würden sie Köln in Richtung Süden verlassen, bis sie eine Möglichkeit fanden, den Rhein zu überqueren. Auf der anderen Seite des Flusses standen die Amerikaner.
Am nächsten Morgen brachte eine Straßenbahn Werdin und Irma in den Süden der Stadt. Sie mussten fast eine Stunde warten, bis ein Lastwagen mit Holzkohlevergaser hielt und sie mitnahm. In Gremberghoven ließ er sie aussteigen. In der Mitte des kleinen Orts entdeckten sie eine Gaststätte Zum Löwen , wo sie blau angelaufene Kartoffeln mit püriertem Gemüse erhielten. Irma blieb in der Gaststätte, während Werdin den Weg erkundete. Es waren nur ein paar hundert Meter bis zum Rheinufer. Am Fluss entdeckte er drei Fischerboote, wie er es erhofft hatte. Eines lag so nah am Ufer, dass er einen Blick hineinwerfen konnte. Er sah zwei Riemen auf dem Boden liegen. Dieser Kahn würde sie heute Nacht ans andere Ufer bringen. Werdin ging langsam zum Wasser hinunter, als machte er einen Spaziergang. Aufmerksam sah er sich um. Etwa zweihundert Meter stromaufwärts erkannte er eine Stellung, ein eingegrabener Tiger-Panzer, Granatwerfer, Maschinengewehre. Einhundertfünfzig Meter flussabwärts ein ähnliches Bild. Ein Unteroffizier und vier Mann gingen Streife. Werdin grüßte sie lässig, setzte sich hin und kaute an einem Grashalm. Immerhin bewirkte seine Uniform, dass er nicht weggeschickt wurde. Zivilisten hatten im Kampfgebiet nichts zu suchen. Heute Nacht mussten sie den Übergang wagen, sobald die Streife vorbei war. Das Ufer würde nicht beleuchtet sein, um dem Feind kein Ziel zu bieten. Sie sollten es schaffen, bis zu einem Boot zu schleichen und überzusetzen. Dann mussten sie sich den Amerikanern zeigen, damit die nicht zu schießen begannen. Sie hatten eine gute Chance, wenn sie vorsichtig waren und nicht in Panik gerieten.
Werdin und Irma saßen eng nebeneinander im Löwen und warteten. Werdin spürte, Irma hatte Angst wie er. Er war sich sicher, sie würde die Nerven behalten. Sie war stark. Sie hatte sich schnell entschieden, aber das minderte nicht ihre Entschlossenheit. Er nahm ihre Hand in die seine. Sie war kalt. Die wenigen Gäste in dem geschniegelten Ausflugslokal taten so, als beachteten sie Werdin und Irma nicht. Ein SS-Mann mit seinem Liebchen. Werdin bildete sich ein, im Gesicht des Wirts ein dreckiges Grinsen entdeckt zu haben. Seine fast farblosen Äuglein glänzten spöttisch, während er seine braunen Zahnstummel zeigte. Er hatte lange schwarze Fingernägel und trug eine mit Fettspritzern beschmutzte Schürze. Er sprach diesen niederrheinischen Singsang, den Werdin noch nie leiden konnte. Aber er ließ sie in Ruhe und fragte nichts, auch nicht, als sie schon vier Stunden saßen und ein so genanntes Gulasch mit Matschnudeln nicht herunterkriegten. Sie redeten kaum, streichelten
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