Der 21. Juli
Sprecher im Radio von den Debatten in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. In Moskau dagegen Schweigen.
Werdin bildete sich ein, die Leute auf der Straße blickten stolzer als gestern. Die Niedergeschlagenheit wich. Es gab die alles entscheidende Wunderwaffe, das schienen viele zu glauben oder glauben zu wollen. In der Zentrale des SD in der Wilhelmstraße schwirrten die Gerüchte, Arbeit blieb liegen, weil geredet wurde über die Bombe und ihre Folgen. Ob die Amerikaner heute am Tag Bomber schickten und die Engländer in der Nacht? Wie würden die Russen antworten? Es war fast wie im Juni 1941, als die Wehrmacht die Sowjetunion angriff. Damals hatte Stalin lange geschwiegen, Moskau war unter Schock, mochte nicht glauben, dass deutsche Divisionen in Eilmärschen nach Osten vordrangen und die Rote Armee in Stücke gehauen wurde. Nun schwieg Stalin wieder. Wartete Moskau auf die zweite Bombe, gar auf die dritte? Dann konnte die Sowjetführung auch darauf warten, selbst ausgelöscht zu werden. Milchs Luftwaffe konnte das rote Riesenreich enthaupten. Im SD glaubten alle, der Krieg sei bald zu Ende.
Auch Reinhold Gottlieb, Werdins Stellvertreter in der Westeuropaabteilung, war erregt. Kaum hatte Werdin sich auf seinen Schreibtischstuhl gesetzt, platzte Gottlieb herein. »Ich muss mit dir reden!«
»Dann fang mal an«, sagte Werdin. Er lachte über die fast kindliche Ungeduld des Obersturmführers.
»Nein, nicht hier«, sagte er.
»Wo dann?«, fragte Werdin erstaunt.
»Heute Abend um sieben, bei dir zu Hause.«
Was war los? Warum die Geheimnistuerei, die doch sonst nicht Gottliebs Art war? Werdin mühte sich, die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch interessant zu finden. Aber es kam ihm gelegen, als es an der Tür klopfte. Krause streckte seinen Kopf ins Zimmer. »Ich hörte, Sie sind wieder zurück«, sagte er freundlich. »Sie wissen, ich habe noch ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen.«
Werdin starrte ihn fragend an.
»Haben Sie Lust auf eine Revanche im Schießkeller?«, fragte Krause. »Ich habe geübt.«
Sie gingen hinunter. Der zweite Wettkampf endete wie der erste, nur hatte Werdin einmal die Neun statt der Zehn getroffen.
»Ich freue mich, dass Sie auch einmal einen Fehler machen«, sagte Krause. Er hatte gut geschossen und doch verloren. Er nahm die Niederlage mit Humor. »Kommen Sie, gehen wir ein Bier trinken.«
Sie landeten in einer Gaststätte am Anhalter Bahnhof, die den Bombenkrieg überlebt hatte. Schmutz und Alter hatten Tische und Stühle dunkel gebeizt. Die Luft war verpestet mit Rauch und dem Gestank von altem Fett. Warum schleppte Krause ihn in eine solche Kaschemme? Sicher war hier nur, dass keiner aus der oberen Etage der SS auftauchte, und vielleicht war das der Hintersinn. Werdin erstaunte es, dass das Bier nicht dünn war, verglichen jedenfalls mit dem Gesöff, das einem üblicherweise vorgesetzt wurde. Krause bestellte zwei Doppelkorn dazu. Er schwärmte von Deutschlands neuer Stärke, der nationalen Wiedergeburt dank deutscher Wissenschaftler. »So was können eben nur wir«, dröhnte er. »Nun schaut der Iwan blöd aus der Wäsche. Und die feinen Herren in Washington und London fragen sich, wann sie die Bekanntschaft mit dem Bömbchen machen dürfen.«
»Hoffentlich ist es jetzt zu Ende, auch mit der Bombenwerferei«, antwortete Werdin.
»Das sagen ausgerechnet Sie! Sie haben doch mitgeholfen. Sie gehören doch zu unseren neuen Helden. Passen Sie auf, irgendwann macht Himmler Sie zum ganz großen Hecht. Und dann hoffe ich, Sie erinnern sich noch an den guten alten Krause.«
Werdin winkte ab. Der Alkohol machte ihn müde. »Sie übertreiben, Standartenführer. Ich bin in Haigerloch rumgelaufen und habe dumm geguckt, sonst nichts.«
»Sie sind zu bescheiden«, konterte Krause. Er nahm einen kräftigen Schluck von seinem Bier und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. Dann steckte er sich wieder die Zigarette in den Mundwinkel. Krause hatte einen im Kahn. Seine Stimme aber war immer noch glasklar. »Es gibt Gerüchte über Sie«, sagte Krause, »böse Gerüchte.« Er starrte Werdin lange an. Der starrte zurück.
Krause stürzte einen Korn hinunter. »Sie sollen so einer sein wie unser lieber Kamerad Müller, dem inzwischen aufgegangen sein dürfte, dass er besser nicht übergelaufen wäre. Sie waren mal Kommunist, und wer das mal war, der bleibt es, auch wenn er feierlich abschwört. Einmal Kommune, immer Kommune. Also, ich behaupte das ja nicht. Aber es gibt
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