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Der 21. Juli

Der 21. Juli

Titel: Der 21. Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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wir hätten sie nicht gewarnt. Außerdem glaube ich nicht, dass Ihr Kollege Schellenberg und der Reichsführer nicht selbst längst auf diese Idee gekommen sind. Sie werden wissen, was sie zu tun haben. Aber wir müssen wieder anfangen, ein Kundschafternetz aufzubauen. Es wird Opfer kosten, ich weiß. Es gibt dort immer noch viele, die an die Sowjetunion glauben. Für die sind wir das Paradies der Werktätigen, der Himmel auf Erden. Das klingt religiös, ist aber nicht so gemeint. Es gibt auch einen Glauben an die Kraft des Menschen, seine Lebensumstände menschenwürdig zu gestalten. Und wir sind das Vorbild. Kein Land der Welt hat bessere Voraussetzungen, Agenten zu werben, als wir. Und die meisten Agenten, die wir werben, tun ihre Arbeit aus Überzeugung, nicht für Geld. Auch wenn wir die Gier als nützlichen Grund nicht übersehen dürfen.«
    Grujewitsch staunte über Berija. Er war freundlich, ausgeglichen. Ob er glaubte, den Machtkampf gegen Chruschtschow und Malenkow bereits gewonnen zu haben? Offenbar setzte der Staatssicherheitsminister auf die deutsche Karte. Die konnte er ausspielen, wenn der Vertrag mit den Deutschen spruchreif war. Er würde die Sowjetunion aus der Agonie befreien, sie wieder zum Akteur in der Weltpolitik machen, den Handel beleben und Technik in Deutschland einkaufen. Er, Lawrentij Berija, würde die Amerikafreunde Chruschtschow und Malenkow schlagen, und Molotow würde ihm helfen. So oder so ähnlich musste es sein, dachte Grujewitsch. Der Kontakt mit Himmler, wenn auch vermittelt über Schellenberg, war weniger eine Frage der Außen-als der Innenpolitik. Wir brauchen den Massenmörder. Solange der Reichsführer etwas zu sagen hatte, würde es keine Koalition geben zwischen Deutschen und Amerikanern. Es war klar, der Machtkampf an der Spitze trieb der Entscheidung entgegen. Gab es eine Übereinkunft mit Himmler, siegte Berija, gab es sie nicht, verlor er.
    Kein Wunder, dass der Staatssicherheitsminister mit Grujewitschs Bericht über sein Gespräch mit Schellenberg zufrieden war. Die Deutschen würden sich auf einiges einlassen. Offenbar wollten sie den Amerikanern Feuer unterm Hintern machen. Vielleicht der Griff nach Südamerika, wo es schon einige Staaten gab, die Berlin erfolgreich hofiert hatte. Südamerika war die Wunde im Arsch der USA. Wäre doch ein Wunder, die Deutschen würden es nicht dort versuchen. Mit der Sowjetunion im Rücken könnte es klappen. Und was kam danach? Die Ermutigung der Japaner, einen zweiten Anlauf im Pazifik zu starten? Was die in Berlin auch tun würden, mit jedem Schritt gewannen sie zusätzliche Optionen, solange sie im Osten Ruhe hatten oder, noch besser, sogar einen Bündnispartner.
    »Es geht alles viel schneller, als ich gehofft hatte«, sagte Berija. »Das verdanken wir auch Ihrer Sondierung, Boris Michailowitsch. Gut, dass wir Sie damals nicht bestraft haben, als die Sache in Berlin schief ging. Vielleicht sollte ich Himmler bald sehen. Wollen Sie bei den Deutschen mal nachfragen? Sie haben doch so einen guten Kanal nach Berlin.«
    Da stand sie klein vor dem Signalmast auf Bahnsteig 7 und schrie: »Mörder! Mörder! Haltet ihn!« Er fürchtete, seine Beine würden versagen. Dann merkte er, dass er rannte. Er wühlte sich durch die Masse, half mit den Ellbogen kräftig nach, hörte weit weg das Schimpfen der Leute, war endlich durch und rannte hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Er sah eine Nebenstraße und stürmte hinein. Im erstbesten Hauseingang verbarg er sich und schaute vorsichtig, ob ihn jemand verfolgte. Es war ruhig. Ein Müllwagen leerte Abfalltonnen. Erst jetzt hörte er sich keuchen. Angstschweiß.
    Das Hirn meldete sich zurück. Was hatte die Alte gesehen? Einen groß gewachsenen Mann mittleren Alters mit einem Koffer auf dem Rücken, sonst nichts. Werdin sah sich noch einmal vorsichtig um. Niemand zu sehen. Am anderen Ende brummte der Müllwagen. Er legte seinen Koffer im Hauseingang auf den Steinboden. Die Tür öffnete sich. Zwei halbwüchsige Mädchen schauten ihn verwundert an. Er tat so, als wäre nichts dabei, dass sich ein Mann im Eingang eines fremden Hauses umzieht. Kichernd schauten die Mädchen auf seine Unterhose und gingen auf die Straße. Er zog die grüne Hose an, die im Koffer lag, warf einen Blick auf die Straße, versuchte im Hausflur etwas zu hören und legte das Schulterhalfter um. Die blaue Regenjacke zog er darüber. In die Innentasche steckte er seinen SD-Dienstausweis.
    Dieses Mal trug er den Koffer mit der

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