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Der 21. Juli

Der 21. Juli

Titel: Der 21. Juli Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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Muldens Überreste finden.
    Mit schnellem Schritt kehrte Werdin zum Bahnhofsgebäude zurück. Er versuchte, nicht hektisch zu wirken. Es war unwahrscheinlich, dass jemand ihn gesehen hatte. Trotzdem wäre Werdin froh gewesen, er hätte gleich in den Zug nach Venlo einsteigen können. Er war schon fast im Menschengewühl der Bahnhofshalle untergetaucht, als es hinter ihm schrie: »Mörder! Mörder! Haltet ihn!« So gut war sein Holländisch allemal, dass er verstand, es ging um seinen Hals. Ein alte Frau, in Schwarz gekleidet, weiße Haare unter einem schwarzen Kopftuch, in der einen Hand ein Stock, in der anderen eine Handtasche, stand auf dem Bahnsteig 7, vor einem Signalmast, und schrie grell: »Mörder! Mörder!« Sie zeigte auf ihn.
    ***
    Man hörte so einiges munkeln. Grujewitsch gab nicht viel auf Tratsch. Aber er verschloss seine Ohren nicht. Nicht alles war falsch, nicht alles wahr. Es hatte wohl Streit gegeben in der Führung der Kommunistischen Partei. Chruschtschow soll Zweifel geäußert haben am Genius des großen Stalin. Es ging um Verdienste im Krieg, um die Gründe der Niederlage. Dass sie Berlin nicht erobern konnten, empfanden viele in Russland als Niederlage. Und noch etwas irritierte. Nicht nur Grujewitsch hatte bemerkt, dass auffällig viele Leute wieder auftauchten, die man in Lager gesteckt hatte. Waren sie unschuldig, war ihre Inhaftierung Unrecht gewesen? Es wurden Menschen rehabilitiert, die als Todfeinde der Sowjetmacht beschimpft worden waren. »Fehlt gerade noch, dass sie den Genossen Trotzki in Mexiko ausgraben und neben Lenin im Mausoleum aufbahren«, lästerte Iwanow auf einem ihrer Spaziergänge.
    »Warum eigentlich nicht?«, fragte Grujewitsch. »Ohne Trotzki hätten wir den Bürgerkrieg verloren.«
    Iwanow schnalzte mehrfach mit der Zunge. »Das lass mal nicht unseren großen Chef hören, du Ketzer. Der glaubt nämlich wirklich daran, dass es ohne Stalin gar keine Revolution gegeben hätte.«
    »Dabei war der doch nur ein Würstchen. Frag mal die Veteranen. Da gibt es ein paar, denen stinkt das Getue um den Vater der Völker gewaltig.«
    Es nieselte warm. Grujewitsch durchlief ein Zittern, als fröre er. Seine Welt löste sich auf. Alles schien fest gefügt, selbst mit dem Waffenstillstand mit den Deutschen hatte er sich abgefunden. Dabei war es allein Moskaus Schuld, sie hätten den Spuk nur ein paar Wochen früher austreten müssen. Sie hatten im Krieg zu viele Fehler gemacht. Die Deutschen hatten sie bis nach Moskau, Leningrad und in den Kaukasus geprügelt, obwohl die Rote Armee mehr Soldaten und mehr Panzer hatte. Viel zu spät hatten sie begonnen, aus ihren Fehlern zu lernen. Weil jede strategische Entscheidung unlösbar verknüpft war mit Stalins Namen, war jede dieser Entscheidungen unfehlbar. Aber erst als sie fast alles anders machten, errangen sie Siege. Nur unter der Wucht der feindlichen Schläge hatte Stalin sich darauf besonnen, Schukow die Macht zu geben, die er brauchte. Die Parade auf dem Roten Platz am Tag der Befreiung der Sowjetunion von der faschistischen Invasion, wie der Waffenstillstand verklausuliert wurde, hatte Schukow abgenommen, nicht Stalin. Schukow hatte seine Rotarmisten bis nach Deutschland geführt, bis Minsk die Siegesgewissheit der Russen zerstörte. Sie feierten einen Sieg, der eine Niederlage war. Deutschland war nicht zerstört, sondern trotz aller Wunden des Kriegs die erste Macht in Europa. Stark genug, einen Frieden zu erzwingen von den Mächten der feindlichen Koalition.
    Und nun wurden also die Lager geöffnet. Feinde des Volks verwandelten sich in Sowjetbürger. Konnte es sein, dass im Staat der Arbeiter und Bauern Menschen, viele Menschen eingesperrt wurden, obwohl sie unschuldig waren? Zweifel hatte Grujewitsch lange gehabt, und Iwanow pflichtete ihm bei. Aber er hatte sich an den Gedanken geklammert, es seien Ausnahmefälle. Es konnte doch nicht sein, dass tausende, zehntausende, hunderttausende verschleppt oder getötet wurden, obwohl nichts von dem stimmte, was ihnen vorgeworfen wurde. Konnte es wirklich nicht sein?
    Am Vormittag hatte Grujewitsch berichtet. Berija war aufmerksam hin und her gelaufen und hatte lange kein Wort gesagt. Und dann verlangte er nur, dass Grujewitsch dieses oder jenes Detail wiederholte, präzisierte und bewertete.
    »Das haben Sie gut gemacht, Boris Michailowitsch. Was täten wir ohne Sie? Was halten Sie von Schellenberg?«
    »Er ist ein Fuchs«, sagte Grujewitsch. »Aber er läuft an Himmlers Leine.

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