Der 21. Juli
Vielleicht überschreitet er seine Kompetenzen hin und wieder, aber er würde sich nie in Gefahr bringen. Er kennt die Verhältnisse bei uns übrigens ganz gut. Ich fürchte fast, er hat irgendwo bei uns eine Quelle sitzen.«
Berija schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Müller hat uns jedenfalls viele verraten. Und die haben wiederum andere verraten. Wir haben alles versucht, mehr aus ihnen herauszukriegen, aber es gab nicht mehr. Die Funkabwehr hat seit Jahren nichts mehr gehört. Gut, mag trotzdem sein. Aber vernünftig ist es nicht, davon auszugehen. Schellenberg ist eben ein kluger Mann.« Er hielt einen Augenblick inne, dann setzte er seinen Gang fort. »Wir müssen davon ausgehen, dass Schellenberg sagt, was Himmler will. Himmler will einen Pakt, wie immer der sich nennt. Himmler will das Patt beenden, das zwischen uns, den Deutschen und den Amerikanern herrscht. Er sagt sich, die Russen sind uns näher als die Plutokraten.«
Grujewitsch nickte. Er bewunderte Berijas Intelligenz. So musste man Schellenbergs Auftritt in Stockholm verstehen.
Berija kratzte sich am Kopf. »Die Deutschen liegen gewissermaßen in der Mitte, zwischen Ost und West. Es gab immer starke Kräfte, die sie nach Osten zog, entweder mit der ausgestreckten Hand, denken Sie an Rapallo, oder mit der Faust, denken Sie an den Überfall vom 22. Juni.« Ein Zug von Bitterkeit stieg ihm ins Gesicht. Grujewitsch war sich unsicher, was Berija bedrückte. Die grandiose Fehleinschätzung vor dem Überfall, die Deutschen seien vertragstreu? Die Liquidierung großer Teile des Offizierskorps der Roten Armee, ihre Enthauptung durch Stalin? Die Millionen von Opfern unter Soldaten und Bürgern? Wahrscheinlich dachte Berija an nichts davon, sondern an die traurige Rolle seines NKWD, des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten, dessen Spitze die Warnungen der Agenten vor dem deutschen Angriff unterschlug, nachdem Stalin sie als Provokation verdammt hatte. »Um in dieser Mittellage gut leben zu können, braucht man Klugheit und einen festen Willen. Man muss sich seiner Interessen sicher sein. Sonst beginnt die Wackelei, zwischen Rapallo und Locarno, zwischen Krieg und Freundschaft, zwischen Hitler und Himmler. Obwohl der Reichsführer ja nicht unbedingt als Freund der Sowjetunion verschrien ist. Aber jetzt hat er es wohl begriffen.« Berija setzte sich in einen mächtigen Sessel, in dem seine Gestalt fast versank.
»Leider waren die deutschen Politiker selten klug, und noch seltener waren sie sich im Klaren über ihre Interessen. Sie waren der Herausforderung der Mittellage meist nicht gewachsen. Und nun also Himmler. Schauen wir uns seine Position und seine Interessen an. Was meinen Sie, Boris Michailowitsch?«
Grujewitsch erschrak. Er war darauf eingestellt, dass Berijas Monolog sich fortsetzte, bis er die Unterredung beendete und Grujewitsch befahl, was dieser zu tun hatte. Grujewitsch ärgerte sich, als er sein Stottern hörte. Berija lächelte ihn freundlich an, Grujewitsch erinnerte dieses Lächeln an eine Schlange, die erwartungsvoll züngelt, wenn sie sich ihrer Beute nähert. »Ich glaube, Himmler hat begriffen, dass die Amerikaner niemals mit ihm ins Geschäft kommen. In den USA gibt es viel zu viele Juden und viel zu viele überempfindliche Intellektuelle. Die würden ein Höllenspektakel veranstalten, wenn der Judenmörder Himmler, so nennen ihn dort manche, ihrem Präsidenten seine Aufwartung machte. Präsident McCarthy wiederum würde gerne mit den Deutschen ein Bündnis gegen uns schmieden. Aber McCarthy will wieder gewählt werden. Da darf er sich nicht mit der SS zusammentun und auch nicht mit uns.«
»Er ist in einer Scheißlage, das wollen Sie sagen?«
»Jawohl, Genosse Berija.«
Der winkte ab, als wollte er sagen: Nicht so förmlich, wir sind doch hier unter alten Genossen. »Was sollen wir tun, Boris Michailowitsch?«
»Das zu entscheiden ist Aufgabe der Präsidiums der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.«
»Ach, Boris Michailowitsch, Sie haben ja so Recht. Aber sagen Sie mir Ihre Meinung.«
»Wir sollten einen Nichtangriffsvertrag mit den Deutschen abschließen. Und wir sollten den Amerikanern sagen, er sei nicht gegen sie gerichtet. Wir können ja einen ähnlichen Vertrag auch mit den Amerikanern aushandeln.«
Berija lächelte. »Sie sind ein guter Geheimdienstoffizier. Aber ins Präsidium wird Sie das Zentralkomitee auf seinem Plenum nächste Woche wohl nicht wählen. Wenn wir tun, was Sie vorschlagen,
Weitere Kostenlose Bücher