Der 21. Juli
Hand, die Riemen hatte er abgeschnallt. Er betrat die Bahnhofshalle und zwang sich, seine Schritte sicher zu setzen. Er blickte den Bahnsteig 7 entlang. Polizisten und Sanitäter waren erschienen. Menschen drängten sich neugierig an die Beamten, die den Tatort sicherten. Zahlreiche Kriminalpolizisten in Zivil befragten Passanten, ob sie etwas gesehen hätten. Die Polizei hatte schnell gehandelt. Zwei uniformierte Beamte hielten ihn an, junge Männer: »Guten Tag, es ist ein Verbrechen geschehen. Ist Ihnen etwas aufgefallen?«
Werdin schüttelte den Kopf.
»Dürfen wir Ihre Papiere sehen?«
Werdin verblüffte die Höflichkeit der Polizisten. Er reichte ihnen seinen SD-Ausweis.
»Oh, verzeihen Sie«, sagte der kleinere der beiden.
»Das konnten Sie ja nicht wissen.« Werdin lächelte freundlich.
»Was ist passiert?«
Die beiden Polizisten berichteten aufgeregt von einem Mord auf Bahnsteig 7. Ein Mann sei unter einen fahrenden Zug gestoßen worden. Das behaupte jedenfalls eine alte Frau. Vielleicht aber bilde sie sich das Verbrechen nur ein. »Wollen Sie mit dem leitenden Ermittlungsbeamten sprechen, Herr Sturmbannführer?«
»Sie werden es bestimmt auch ohne mich herausbekommen«, sagte Werdin lächelnd. Die Selbstsicherheit kehrte zurück. »Mein Zug fährt gleich ab.«
Er verließ den Bahnhof durch einen Seitenausgang und lief ein Stück, bis er auf eine Pension stieß. Er fragte einen alten Mann nach einem Zimmer, zahlte im Voraus für eine Nacht und legte sich aufs knarrende Bett. Er wusste nicht, ob es richtig war, eine Nacht in Rotterdam zu verbringen. Aber seine Nerven brauchten Ruhe. Er lag stundenlang, ohne Schlaf zu finden.
Am nächsten Morgen zwang er sich zu frühstücken. Dann ging er zurück zum Bahnhof. Er entdeckte keinen Polizisten, nichts deutete darauf hin, dass er hier gestern einen Mann ermordet hatte. Der Zug nach Venlo wartete schon. Er nahm in einem Abteil der ersten Klasse Platz. Pünktlich setzte sich der Zug in Bewegung. Werdin hatte noch einmal Glück gehabt. Er brauchte noch mehr Glück. Aber er vertraute seinen Papieren, den besten Fälschungen, die er je gesehen hatte. Erstaunt merkte Werdin, dass ihn die Gefahr des Scheiterns wenig schreckte. Nur Irma hätte er gerne wieder gesehen. Wenn sie noch lebte.
II.
I n der SD-Leitstelle Viersen liefen alle Informationen aus Holland zusammen. Die Niederlande waren ein souveräner Staat, seit sich die Wehrmacht 1945 zurückgezogen hatte. In den Polizeipräsidien saßen Verbindungsleute des Sicherheitsdienstes. An der Küste gab es deutsch-holländische Marineverbindungsstellen. Hollands Nordseeküste gehörte zur deutschen Sicherheitszone. Für die Holländer bedeutete das, sie mussten mit den Deutschen zusammenarbeiten. Dafür ließen die Deutschen sie in anderen Dingen in Ruhe.
Die SD-Leitstelle Viersen schickte jeden Tag per Telegraf einen verschlüsselten Bericht nach Berlin. Die Berichte aus Viersen waren länger als die Meldungen anderer Leitstellen, weil hier die Informationen aus dem ganzen Land zusammengefasst und bewertet wurden. Im Sicherheitsdienst war die Westeuropaabteilung dafür zuständig, die Berichte aus Viersen auszuwerten. Leiter der Abteilung war Obersturmbannführer Reinhold Gottlieb. An ihn gingen alle Meldungen aus Frankreich, Belgien und Holland. Luxemburg und Liechtenstein hatten sich 1947 dem Deutschen Reich angeschlossen und unterstanden daher einer anderen Abteilung des SD.
Gottlieb las die Meldungen aufmerksam. Sie hatten Westeuropa mit einem Netz aus offiziellen Residenzen und V-Leuten überzogen. Sie wollten nicht überrascht werden. Das war zwar für die Gegenwart keine Gefahr, aber man konnte nie wissen. Man musste ja nur daran denken, wie trickreich sich Deutschland den Auflagen des Versailler Vertrags entzogen hatte. Die Verlierer des Zweiten Weltkriegs waren auch nicht blöd. Um jeden Widerstand im Keim ersticken zu können, hörte der SD das Gras wachsen. Dafür mussten alle Informationen ausgewertet werden. Die Leitstellen trafen eine Vorauswahl, die Leiter der zuständigen Abteilungen prüften diese, und die Auswertungsabteilung untersuchte alles systematisch.
Pieter Mulden war in Rotterdam unter einen Zug geraten. Fotos würden nachgereicht, Gottlieb konnte sich vorstellen, wie sie aussahen. Eine alte Dame behauptete, Mulden sei ermordet worden. Sie hatte hinter einem Signalmast gestanden und wollte einen hoch gewachsenen Mann gesehen haben, der Mulden gestoßen habe. Gottlieb hatte Mulden
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