Der 21. Juli
wenn er trank. Dann überfielen ihn Heimweh und Sehnsucht. Er war fast eine Woche in Berlin. Seit drei Tagen wartete er. Auf einen Anruf. Der Anruf würde ihm sagen, ob Berija kommen würde oder nicht. Die Deutschen hatten Grujewitsch gedrängt, nach Hause zu funken. Er hatte es schließlich getan. Die deutsche Regierung und besonders Reichsführer Himmler würden sich freuen, Minister Berija so bald wie möglich in Berlin zu begrüßen. Mehr funkte Grujewitsch nicht, er konnte seine Sendung nicht verschlüsseln. Ob die Genossen in Moskau mit dieser Botschaft klarkommen würden, war die eine Frage. Die andere war, was Berija mit ihm anstellen würde, weil er sich auf das Drängen der Deutschen eingelassen hatte. Die dritte Frage war, was Berija getan hätte, wenn Grujewitsch sich nicht eingelassen hätte auf das Drängen der Deutschen. Ich lebe zwischen dem Orden des Roten Sterns und einem Lager in Sibirien, dachte Grujewitsch manchmal, nicht nur in Berlin. Die größte Gefahr droht einem sowjetischen Geheimdienstoffizier nicht vom Feind, sondern von den eigenen Genossen. Wie oft musste Grujewitsch in der Angst leben, seine Vorgesetzten würden ihm später einen Fehler vorwerfen. Alles konnte falsch sein, auch das Nichtstun. Alles konnte richtig sein. Was richtig war, zeigte sich meist im Nachhinein. Das Präsidium legte die Linie im Großen fest, und diese Linie konnte sich ändern. Für die Offiziere der Staatssicherheit legte der Genosse Berija die Linie fest. Auch diese Linie konnte sich ändern, ohne dass man vorher ahnen konnte, in welcher Richtung. Die Angst würde Grujewitsch lebenslang begleiten. Manchmal half der Alkohol, sie zu betäuben. Oder Anna. Oder beides.
Das Telefon klingelte, die Rezeption. Ein Telegramm sei eingetroffen, sagte eine höfliche Stimme. Ein Telegramm aus Moskau. Ob man Herrn Grujewitsch das Telegramm sofort bringen solle? Natürlich sofort, sagte Grujewitsch. Ungeduldig wartete er, bis der Page die Suite verlassen hatte.
Er öffnete den Umschlag und las: TREFFE MORGEN EIN. ERWARTE SIE AM FLUGHAFEN TEMPELHOF. BERIJA. Grujewitsch spürte die Erregung aufsteigen. Nun ging es los. Und wenn Berija so schnell kam, dann hatte Grujewitsch keinen Fehler gemacht. Heute Abend sah er den Orden vor sich, in der Mitte des fünfzackigen Sterns ein Rotarmist, zwischen den beiden unteren Zacken Hammer und Sichel kunstvoll eingefügt.
Unter den Linden 67, das Fotogeschäft gab es noch. An der Eingangstür las Werdin ein handgemaltes Schild: Heute wegen Trauerfall geschlossen. Werdin fluchte. Er war sich so sicher gewesen. Nun musste er einen weiteren Tag warten.
Als er zum Bahnhof Friedrichstraße lief, umwehte ihn eine Sommerwindbrise. Schon am Morgen hatte sich ein heißer Tag angekündigt. Werdin schwitzte in seiner Uniform. Er hatte sie angezogen, um den Fotografen zu beeindrucken. Im Bahnhof Friedrichstraße entschied er sich, ohne lange nachzudenken: Er wollte Rettheim suchen. Wenn er noch lebte und noch der war, als den Werdin ihn verlassen hatte, würde er ihm vielleicht helfen, seinen Auftrag zu erledigen. Töten Sie Himmler, hatten Dulles und Crowford gesagt. Werdin würde es versuchen. Auch wenn die Sehnsucht nach Irma stärker war, ohne Attentat auf den Reichsführer-SS war es wohl aus mit dem Leben in Freiheit. Er stellte sich vor, wie es sein würde, mit Irma und seinem Sohn im Haus bei Tierra del Sol. Oder wäre es Irma dort zu einsam? Dann könnten sie woanders hinziehen. Aber es wäre unmöglich, wenn er seinen Auftrag nicht erfüllte. Das hatte ihm niemand gesagt, es war nicht nötig. Je länger er aus Amerika weg war, desto deutlicher wurde ihm das Geschäft, auf das er sich eingelassen hatte, um Irma zu finden: Töte Himmler, und wir lassen dich in Ruhe. Tust du es nicht, tun wir nichts mehr für dich. Sie würden ihn einfach nicht mehr kennen. Sie würden kein U-Boot schicken, das ihn zurückbrachte. Sie würden nicht einmal mehr wissen, dass es ihn gab. Erst wenn sie erfuhren, dass Himmler sein Staatsbegräbnis bekäme, würde der Verbindungsmann in Rotterdam Werdins Rückkehr nach Amerika ermöglichen. Das hatten Dulles und Crowford nicht gesagt, und doch war es sonnenklar. Ohne Erfolgsmeldung würden sie Werdin schon gar nicht mit einer Frau und einem Kind auf ein amerikanisches U-Boot lassen.
Im Bahnhof Friedrichstraße nahm Werdin die U-Bahn Richtung Friedrichsfelde Ost, sie fuhr durch bis Neulichtenberg. Werdin erinnerte sich noch gut, wie erschöpft die Menschen
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