Der 21. Juli
überfielen Werdin die Zweifel. Seine Flucht vor dem Albtraum war zu Ende. Er zweifelte an sich selbst, an der Rolle, die er spielte, in seiner Einbildung und in der Wirklichkeit, in der er nur ein kleines Rädchen eines Getriebes war, das andere steuerten. Er hatte sich entschieden, gegen Moskau, dann auch gegen die Heimat. Aber hatte er alle Entscheidungen selbst getroffen, oder war er nur eine Marionette an Schellenbergs Finger?
Rettheim stand auf und humpelte an seiner Krücke in die Diele.
»Keine Sorge«, sagte er. »Ich komme wieder.« Werdin hörte, wie sich die Badezimmertür öffnete. Instinktiv lauschte er, ob Rettheim den Schlüssel umdrehte. Es war nichts zu hören. Er hatte sich acht Jahre keine Sorgen um Rettheim gemacht, warum jetzt? Die Badezimmertür quietschte leise, als Rettheim sie öffnete. Er kam zurück in die Küche, am Hemdärmel sah Werdin Wasserspritzer.
»Und wie willst du unseren geliebten Reichsführer um die Ecke bringen?«, fragte Rettheim.
»Keine Ahnung«, erwiderte Werdin. »Ich dachte, wir suchen uns ein Plätzchen, wo der Wiedergänger König Heinrichs gerne vorbeikommt, und dann knalle ich ihn ab. Du wirst doch ein Gewehr auftreiben können?«
»Wie nett, dass du mich zum Mitmorden einlädst. Das ist genau das, was ich mir schon immer gewünscht habe. Außerdem habe ich richtig Sehnsucht nach dem Keller im Prinz-Albrecht- Palais.«
»Dann ist ja alles klar«, sagte Werdin. »Scherz beiseite, seid ihr alten Verschwörer denn glücklich damit, dass Himmler im Hintergrund die Fäden zieht? Wenn ihr Pech habt, gibt’s wirklich einen neuen Pakt mit den Russen. Denk daran, was nach dem letzten passierte.«
»Da sind wir über die Polen hergefallen, ich weiß, ich weiß. Vor Warschau habe ich mir mein Eisernes Kreuz verdient.« Rettheim schloss einen Moment die Augen, er krümmte die
Hände, kratzte sich am Ohr. »Du hast schon Recht. Vor ein paar Tagen habe ich mit Stauffenbergs Bruder gesprochen. Der ist todunglücklich, und Claus, der General stab schef, ist es auch.«
»Da gab es doch mal die Scharfschützenversion vom 98k?«
»Inzwischen haben wir was Besseres, Halbautomatik mit Zielfernrohr, leichter, schnellere Schussfolge.«
»Kannst du die Waffe besorgen?«
Rettheim nickte bedächtig. »Das kann klappen. Allerdings ist die Gefahr groß, dass mich der SD danach am Kanthaken hat.«
»Was hältst du von einem Leben in Amerika, sagen wir mal, ein paar Kilometer nördlich von Mexiko? Heiß und staubig. Überall Indianer und Klapperschlangen.«
»Reizt mich sehr. Da war ich noch nicht«, sagte Rettheim. »Klingt wie lebenslang Urlaub.« Rettheim schloss die Augen. Dann schaute er Werdin staunend an. »Du kommst also ohne irgendeinen Plan aus Amerika hierher, um unseren Reichsführer abzuknallen. Entweder du bist verrückt geworden, oder die Sache mit Himmler ist nur ein Vorwand. Du kommst wegen der Frau, stimmt’s? Wie hieß sie noch mal?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist noch verrückter.«
Werdin schwieg eine Weile. Ihm schien, dass sich dieser Gedanke bei ihm erst jetzt setzte. Rettheim hatte Recht.
»Du musst mir die Frage nicht beantworten. Dein Schweigen sagt genug. Kommen wir also zu Himmlers Ableben. Es wird Zeit. Wir haben Hitler umgebracht, und du Idiot hast uns damals geraten, deinen Reichsführer am Leben zu lassen. Das war falsch und richtig zugleich. Hätten wir den treuen Heinrich mit in die Luft gejagt, dann hätten wir die SS zum Feind gehabt und wären untergegangen. Wir sind nicht untergegangen und haben doch nicht richtig gesiegt. Himmler sitzt in seiner Wewelsburg und plant das Vierte Reich, die Weltherrschaft der nordischen Rasse. Und niemand ist weit und breit zu sehen, der ihm auf die schwarzen Finger haut. Er strickt an einem Bündnis mit den Russen, deren Emissäre sind schon angekrochen. Einer logiert im feinen Adlon. Der große Staatssicherheitsminister, Bruder im Geist und im Blut unseres Reichsführers, Lawrentij Berija höchstpersönlich wird seinen Arsch in Bewegung setzen nach Berlin. Er soll richtig gerührt gewesen sein über die Hilfslieferungen für die noch nicht Gestorbenen von Minsk. Vielleicht können wir den ja gleich mit erschießen?«
Dann hatten Crowford und Dulles Recht gehabt, als sie den Teufel an die Wand malten, dachte Werdin. Er war erschrocken, so weit also waren die deutschsowjetischen Verhandlungen vorangekommen. Was war das Ergebnis, wenn zwei Teufel sich verständigten? Eine doppelte Teufelei.
»Gustav,
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