Der 21. Juli
zittrigen Knien drückte Werdin auf die Türklingel. Schlurfende Schritte, eine Sicherheitskette wurde abgehängt, sie schlug gegen die Tür. Die Tür öffnete sich einen Spalt, Licht fiel auf die Treppe, auf der Werdin stand. Ein schmutziger alter Mann mit einem Monokel starrte ihn unfreundlich an. Der Alte stank nach Fusel.
»Ja?«, fragte er.
Werdin erschrak. Es brauchte einige Sekunden, bis er sprechen konnte. »Wohnt hier nicht die Familie Mellenscheidt?«
»Nein«, sagte der Mann, als hätte Werdin ihm etwas Unanständiges vorgeworfen. »Hier wohne ich.«
»Wissen Sie, wo die Mellenscheidts wohnen?«
»Die sind längst tot«, sagte der Mann. »Warum? Wissen Sie das nicht?«
»Alle?«
»Woher soll ich das wissen?« Der Mann schloss die Tür.
Werdin hämmerte gegen die Tür und wusste im selben Augenblick, dass er sich dumm verhielt. Er konnte nicht anders. Der Mann öffnete die Tür, nachdem er die Sicherheitskette wieder vorgelegt hatte. Durch den Spalt hielt ihm Werdin seinen gefälschten SD-Ausweis vor die Nase.
»Ach, daher weht der Wind«, sagte der Alte. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Kommen Sie herein.«
Als Werdin in den Flur trat, musterte der Alte Werdins verknitterte und fleckige Hose. Er rümpfte kurz die Nase, als wollte er sagen: Unter dem Führer wäre so was nicht möglich gewesen. Er ging voraus ins Wohnzimmer, in dem Werdin vor seiner Flucht mit den Mellenscheidts gesessen hatte. Margarete und Gustav standen ihm vor Augen. Dann sah er das Hitler-Bild an der Wand.
»Also, ich kann Ihnen nicht viel sagen. Frau Mellenscheidt hat das Haus hier an mich verkauft, nachdem ihr Mann gestorben ist. Der Sohn ist ja, Sie wissen das bestimmt, in irgendeinem Lazarett im Osten gestorben. Wo Frau Mellenscheidt hingezogen ist, weiß ich nicht.«
»Wissen Sie denn, wo Irma Mellenscheidt wohnt?«
»Ist das die Tochter?«
Werdin nickte.
»Was hat sie denn ausgefressen?«
»Wo wohnt sie?«, fragte Werdin streng.
Der Alte zuckte etwas zusammen und dachte nach. »Weiß ich nicht«, sagte er dann. »Doch, vor einiger Zeit hat mir eine Nachbarin erzählt, sie sei nach Friedrichsfelde gezogen. Aber wohin genau, keine Ahnung.«
Die Enttäuschung überfiel Werdin erst, als er wieder in der S-Bahn saß. In der Nacht gesellte sich die Angst dazu. Es war eine Wahnsinnsidee gewesen, nach Deutschland zu fahren. Das Glück hatte ihn hineingebracht. Noch mehr Glück würde er brauchen, um wieder hinauszukommen. Mehr als das bedrängte ihn aber die Frage, wo Irma war. Warum hatte sie nicht aufgeschrieben, wo sie wohnte? Er wälzte sich hin und her. In dieser Nacht schlief er kaum.
Als die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg durch den Vorhang ins Zimmer fanden, stand Werdin auf. Er zog Irmas Brief aus der Innentasche seiner Uniformjacke. Briefpapier und Umschlag gehörten nicht zusammen. Vielleicht hatte irgendjemand Irmas Briefumschlag ausgetauscht. Wenn ja, warum? Vielleicht weil Name und Absender darauf standen? Er verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Wer verhindern wollte, dass Werdin Irma fand, hätte nicht den Namen des Fotografen auf der Rückseite des Fotos stehen lassen dürfen. So dumm konnte einer nicht sein. Es war ein Stempel: Alfred Schmitt, Unter den Linden 67, Berlin. Gleich nachher würde er den Fotografen aufsuchen.
***
Waltraud, die Brünette von der Poststelle, hatte ihren Reiz verloren. Es ist immer so, dachte Krause, bevor er einschlief, was du kennst, willst du nicht mehr haben. Was du nicht kennst, weckt deinen Trieb. Es war schwer, die Brünette loszuwerden. Sie rief an und bat, ihn besuchen zu dürfen. Er hatte sich herausgeredet. So ging es nicht weiter, er musste die Sache beenden, auch wenn er Tränen hasste. Morgen tust du es, in der Mittagspause.
Als Krause am Morgen ins Büro kam, drückte er sich schnell an der Poststelle vorbei. Auf seinem Schreibtisch lag eine Notiz von Gottlieb. Er rief ihn per Haustelefon zu sich.
»Das ist ja ein Ding. Es klappt wie am Schnürchen.«
»Ja«, sagte Gottlieb. »Fast zu gut. Der Anruf kam gestern Abend gegen neun Uhr dreißig. Ich habe den Mann heute zurückgerufen. Es gibt keinen Zweifel. Werdin reist unter dem Decknamen Oskar Brockmann. Er hat geklingelt und suchte die Mellenscheidts.«
»Und er besitzt die Frechheit, sich als SS-Offizier auszugeben«, fügte Krause hinzu. »Nette Idee. Wirklich, nicht schlecht.«
Krause erinnerte sich ungern an den alten Nazi, der seit einigen Jahren in dem Haus wohnte, in dem die
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