Der 21. Juli
waschen, anschließend gab es Frühstück. Dann ging es mit geschultertem Arbeitsgerät auf die Felder und in die Ställe der beiden Großgrundbesitzer, deren Ländereien Strasburg an der Oder umschlossen.
Die Arbeit war schweißtreibend, auch wenn man mal das Glück hatte, im Haus zu helfen. Am Anfang fand Irma das Durcheinander der Menschen auf den Gutshöfen verwirrend. Die Gutsherren kämpften als Offiziere an der Ostfront, die Landarbeiter oder Knechte hatte gleichfalls längst die Wehrmacht eingezogen. Zwangsarbeiter aus Polen, der Sowjetunion und Frankreich ersetzten sie. Das waren trotz ihres Schicksals fröhliche Gesellen, die viel sangen und fleißig arbeiteten. Aber ein näherer Kontakt zu ihnen war verboten, auch wenn es auf dem Land schwer zu überwachen war. Irma glaubte, die Gutsherrin drückte alle Augen zu, warnte aber »ihre Mädchen«, sich zu sehr mit den Fremden einzulassen. »Ihr wisst, was das bedeutet«, sagte sie hin und wieder. Edith, ein Mädchen aus Irmas Gruppe, kannte die Vorschriften, aber sie hielt sich nicht daran. Jeder wusste, sie hatte was mit Slotek, einem hübschen und lustigen Burschen aus der Ukraine. Er sang abends schwermütige Lieder, um gleich darauf in lautes Lachen zu verfallen, wenn jemand etwas Witziges sagte. Slotek hatte glänzende schwarze Augen, ein offenes Jungengesicht und einen außerordentlich beweglichen Körper, der ihn in anderen Zeiten zum Artisten befähigt hätte.
Es ging das Gerücht, eine Frau aus der Landjahrgruppe habe die beiden an die örtliche Polizei verraten. Eines Abends folgte ein Polizist Edith und Slotek, wie sie im Zeitabstand von ein paar Minuten zu einem kleinen Waldstück gingen. Er erwischte sie halb ausgezogen auf dem Moos. Sie wurden verhaftet und wegen Rassenschande angeklagt. Ein paar Wochen später gab die Arbeitsdienstführerin beim Morgenappell bekannt, Slotek sei gehängt worden, Edith habe die Gestapo ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht.
Der Schrecken und die harte Arbeit lagen hinter Irma. Aber sie freute sich nicht, die Angst vor dem Leben in Berlin griff nach ihr. Jeden Tag konnte das kleine Haus ihrer Eltern in Berlin-Biesdorf in Schutt gebombt werden, jeden Tag konnten Vater und Mutter sterben oder verstümmelt werden, jeden Tag konnte der gefürchtete Brief von der Ostfront kommen, in dem stand, Klaus sei »gefallen für Führer, Volk und Vaterland«. Manchmal stumpfte die Angst einen ab, manchmal zog sie einem die Kraft aus den Gliedern. Dann war sich Irma sicher, es konnte nicht gut gehen, auch ihre Familie würde in Stücke gerissen werden wie so viele andere schon. Ob ihr Bruder wirklich auf Fronturlaub nach Hause kommen würde? Wenigstens für ein paar Tage?
Die kleine Lokomotive dampfte kräftig auf ihrem rüttligen Weg von Strasburg nach Pasewalk. Irmas Blick schweifte über die Felder und Knicks. Das Land wellte sich sanft und war bedeckt von riesigen Getreidefeldern, hin und wieder durchbrochen von Weiden, auf denen Schwarzbunte und Pferde wie Spielzeugtiere standen. Am Himmel jagte der Wind weiße Wolkenfetzen vor dem strahlenden Blau dieses Frühlingstags. Was für ein schönes, friedliches Land. Irma schloss die Augen und sah eine Feuerwalze die mecklenburgische Idylle niederbrennen. Wenn sie nicht bald Schluss machten mit dem Krieg, würden die Russen hier einfallen wie Dschingis Khans Horden. Irma erschrak. Vielleicht war das nur gerecht, nachdem unsere Soldaten große Teile Russlands zerstört haben. Davon hatte Klaus ihr erzählt.
Sie spürte, wie jemand sie anstarrte. Ihr gegenüber saß ein Luftwaffenhauptmann mit EK I und anderem Geklimper. Er war hoch aufgeschossen, hatte ein wohlproportioniertes, schmales Gesicht unter pechschwarzen Haaren. Er sieht nicht übel aus, dachte Irma, nur die Augen spiegelten den Hochmut, den die Kaste der Flieger immer noch nicht abgelegt hatte. Irma hatte ihre Umgebung bisher nicht wahrgenommen. Als sie ihn kurz ansah, missverstand er dies als Einladung, ein Gespräch zu beginnen: »Ein so schönes Fräulein allein in der Wildnis.« Der Offizier versuchte witzig zu sein. Sie schwieg.
»Darf man fragen, wohin die Reise geht?«
Als sie nicht antwortete, sagte er mit spöttischem Unterton: »O, Mademoiselle ist sich zu fein, mit einem kleinen Luftwaffenhauptmann zu parlieren.«
Es brach aus ihr heraus, und sie bedauerte es gleich: »Luftwaffe? Gibt es die noch? Das habe ich gar nicht gewusst? Haben Sie auch ein Flugzeug, Herr Hauptmann? Wozu benutzen Sie es?
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