Der 21. Juli
Kampf war aussichtslos, aber irgendwie waren sie auch Helden, dachte Grujewitsch. Zumindest für ihresgleichen.
Grujewitsch spürte, wie ihm der Schmerz in den Rücken kroch. Lange zu stehen war nicht sein Fall. Er schaute auf die Uhr, vierzig Minuten ließ ihn der General schon warten. Er räusperte sich einmal. Der Oberleutnant schaute von seinem Schreibtisch auf: »Der Genosse General erwartet Sie schon, er wird Sie jeden Augenblick rufen.«
Grujewitschs rechter Fuß war längst eingeschlafen, als ein Summer auf dem Schreibtisch des Oberleutnants ertönte. Der Oberleutnant schaute Grujewitsch eindringlich an: »Der Genosse General möchte Sie sofort sprechen«, sagte er energisch. Dann stand er auf und öffnete die Tür zum Nebenraum: »Bitte!«
O weh, ist der hässlich, dachte Grujewitsch. Kurz hinter der Tür stand ein Männchen mit stechenden schwarzen Pupillen über einer Hakennase, ungekämmten grauen Haaren und einem spitz herausragenden Bauch. Die Beine der vom Bauch nach unten gedrängten Hose schleiften auf dem Fußboden. Der Mann stank nach Rauch und Wodka. Im Hintergrund des großen Dienstzimmers, dessen Fenster zum Dserschinskiplatz zeigten, erkannte Grujewitsch ein Sofa, auf dem zusammengeknüllt eine Decke lag.
»Genosse General, ich melde mich wie befohlen zum Dienst«, sagte Grujewitsch und salutierte hackenschlagend.
Der General musterte ihn sorgfältig. »So, Sie sind also der Neue.«
»Jawohl, Genosse General!«
»Der Genosse Berija hat so einiges berichtet. Demnach sind Sie ja ein großer Held. Ob es für die Aufgabe, die wir zu erfüllen haben, reicht, werden wir sehen. Wir kämpfen hier nicht mit dem Säbel, sondern mit dem Florett.« Die rechte Hand des Generals machte eine leichte Fechtbewegung. Für einen Moment glaubte Grujewitsch, ein Florett zu erkennen, das sich anschickte, ihn zu durchbohren.
Dann blickte der General zum Oberleutnant: »Schmidt, zeigen Sie dem Genossen Major sein Dienstzimmer.« Grußlos drehte der General sich um und ging Richtung Sofa. Grujewitsch salutierte unbeholfen und folgte dem Oberleutnant auf den Gang.
»Schmidt?«, fragte er.
»Ja«, sagte der Oberleutnant, »Zar Peter hat meine Vorfahren hierher geholt, sie waren Zimmerer. Ich bin Sowjetbürger genauso wie Sie, Genosse Major.«
Das Dienstzimmer erwies sich als ein muffiger, staubiger Raum, in dem alte Möbel, Lampen und Berge von Akten gestapelt waren. »Das Büro wurde lange nicht benutzt«, sagte Schmidt. »Einige Genossen haben es als Abstellkammer verwendet. Es wird heute noch aufgeräumt.« Nach einer Pause: »Ihr Schreibtisch steht da hinten.« Er zeigte zu der der Tür schräg gegenüberliegenden Ecke. »Sie haben sogar schon Post. Wenn Sie Fragen haben, rufen Sie mich«, sagte der Oberleutnant und ging.
Grujewitsch erkannte einen Aktenordner auf der fleckigen Tischplatte. Der Ordner war das einzig Saubere im Raum. Er zwängte sich vorsichtig, um seine Uniform nicht zu beschmutzen, durch das Gerümpel zum Schreibtisch. Das Deckblatt war nicht beschriftet. Er schlug es auf: BERICHT ÜBER EINE ANTIHITLERISCHE VERSCHWÖRUNG IN DER FASCHISTISCHEN DEUTSCHEN WEHRMACHT, las er. Zwischen den Aktendeckeln fand Grujewitsch gut zwanzig Seiten mit Fotografien von Dokumenten, obenauf lag ein zweiseitiger Bericht:
Eine überprüfte Quelle, Michael, berichtet, dass sich im Offizierskorps der faschistischen deutschen Wehrmacht eine Verschwörergruppe gebildet hat. Einige Mitglieder dieser Gruppe planen einen Anschlag auf Hitler. Andere Mitglieder lehnen ein Attentat ab und begründen dies mit ihrem Eid, den sie auf den Führer geleistet hätten. Mitglieder der Gruppe haben bereits Kontakte zu britischen und amerikanischen Stellen geknüpft. In der Verschwörergruppe besteht Zuversicht darüber, dass die Alliierten nicht auf ihrer Forderung nach einer bedingungslosen Kapitulation beharren würden, wenn Hitler bald gestürzt würde ...
II.
I rma Mellenscheidt hatte sich das alles anders vorgestellt. Das Landjahr beim Reichsarbeitsdienst war eine Qual gewesen, keine Spur vom harten, aber fröhlichen Leben auf dem Land. Die Arbeitsdienstführerin schikanierte Irma und ihre einundzwanzig Kameradinnen wie ein Schleifer bei der Wehrmacht. Sie mussten antreten zum Appell, exerzieren mit Spaten und schuften wie Schwerarbeiter. Nur das Essen war gut, vor allem gab es genug. Um fünf Uhr morgens ertönte der Weckruf, dann hieß es schnell raus aus dem Bett zum Frühsport. Danach musste man sich in Rekordzeit
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