Der 21. Juli
eingesperrt? Werdin fragte sich, ob die Luft reichte, bis sie entdeckt wurden. Er starrte auf den verschütteten Eingang, obwohl er ihn im Staubnebel nicht sehen konnte. Es war nur das Kratzen des Spatens und Husten zu hören. Dann eine Stimme: »Sie haben uns gefunden!« Tatsächlich, von weit her drang leises Klopfen in den Keller. Nach einer Weile hörte er das Schleifen von Schaufeln, bald drang ein Lichtstrahl in den Keller. »Wir sind gleich durch!«, brüllte eine Stimme von draußen. Das Loch vergrößerte sich. Helles Tageslicht fiel herein.
Hustend krochen die ersten Männer hinaus, erst jetzt merkte Werdin, dass auch er keuchte. Draußen schüttelte er sich wie ein nasser Hund, um den Staub abzuwerfen. Er bildete sich ein, auch sein Kopf würde dadurch klar. Um ihn herum brannte es. Überall Feuer, nasses Holz qualmte schwarz, die Lunge schmerzte. Als Gottlieb ihn gefunden hatte, sagte Werdin nur: »Weg hier.«
Erstaunlicherweise hatte die SD-Zentrale bloß ein paar Splitterschäden an der Fassade abbekommen. Sie verzichteten darauf, in ihre Diensträume zurückzukehren, und hatten Glück, dass ihr Stammlokal in der Bernburger Straße nicht zerstört worden war. Es war fast leer. Sie bestellten Dünnbier und eine Gulaschsuppe, für die keine Lebensmittelkarte verlangt wurde.
»Ich werde mir diesen Panzerfritzen bald einmal anschauen«, sagte Werdin. »Vielleicht kann ich den an die Gruppe um Beck heranführen. Dann darf der Bursche aber nicht mehr so viel saufen. Die Becks und Goerdelers haben Schiss, dass sie auffliegen. Dabei kennen wir sie alle, na ja, fast alle.«
Gottlieb schüttelte den Kopf: »Schon komisch, da konspirieren seit Jahren dieser Herr Goerdeler, immerhin ehemaliger Bürgermeister von Leipzig, und dieser Herr Beck, dereinst Generalstabschef des Heeres, und keiner greift ein. Ein kleiner Wicht, der einen Witz über den Führer macht, wird gleich geköpft.«
»Das ist noch lange nicht alles«, sagte Werdin leise. »Der Reichsführer selbst hat sich vor kurzem mit Vertretern dieser Gruppe getroffen. Die haben wohl verhandelt. Schellenberg hat da was angedeutet. Offiziell wissen wir gar nichts. Da läuft direkt vor unserer Nase eine Verschwörung, aber der Reichsheini befiehlt Müller und seiner Gestapo keineswegs, Beck, Goerdeler und Kameraden hochzunehmen, sondern lässt sie machen. Himmler ist ein schlauer Hund, der wartet ab, was passiert. Schaut, wo die stärkeren Bataillone stehen. Außerdem weiß er längst, dass es mit dem Endsieg nichts mehr wird, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Wenn wir diesen Krieg verlieren, gehört Himmler zu den Ersten, die sie aufhängen. Aber er muss aufpassen, Müller würde ihn glatt an den Führer verpfeifen.«
»Ja ja, unser Reichsführer sieht blöder aus, als er ist.« Gottlieb spottete im vertrauten Kreis gern über Himmlers gar nicht heroisch erscheinende Schulmeistergestalt. »Er will natürlich nicht unter die Räder kommen. Wahrscheinlich sieht er sich schon als der neue Führer.«
Gottlieb schaute sich um, keiner konnte sie belauschen. An der Wand hing ein Plakat: »Pssst! Feind hört mit!«
***
Sie waren im Hof der Lubjanka angetreten, zweiunddreißig Offiziere des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten, kurz NKWD. Hauptmann Boris Grujewitsch war stolz, den Rotbanner orden zu erhalten. Er hatte einen Überfall ukrainischer Partisanen abgewehrt, die so übermütig waren, sich mit den Deutschen und der Roten Armee gleichzeitig anzulegen. Es waren verwegene Kämpfer, aber die Sondereinheiten des NKWD waren vorzüglich ausgebildet. Und doch wären sie alle draufgegangen, hätte Grujewitsch nicht einen kühlen Kopf behalten. Dafür empfing er nun den Orden, das fand Grujewitsch gerecht. Gawrinas Backen hatten sich vor Freude gerötet, als er mit der guten Nachricht nach Hause gekommen war. Sie tranken Wodka und feierten den Orden dann im Bett. Gawrina ist ein Glücksfall, dachte Grujewitsch, nicht nur wegen ihrer großen, festen Brüste, die ihn aufforderten, sie zu streicheln. Seit er sie kannte, ließen ihn andere Frauen kalt.
Der General pries in seiner Ansprache den Mut und die Vaterlandsliebe der NKWD-Offiziere. Auch ihnen sei es zu verdanken, dass die Faschisten aus der Sowjetunion vertrieben würden. Er erinnerte an die Heldentaten der Tscheka und ihres Leiters Feliks Dserschinski, des ersten Sowjetgeheimdienstes, in dessen ruhmvoller Tradition sie alle stünden. Er sei vom Genossen Stalin beauftragt, ihnen zu danken.
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