Der 21. Juli
erpressen. Er überschritt damit seine Kompetenzen, aber wo waren deren Grenzen, wenn nicht in der Willkür seiner Vorgesetzten? Schellenberg hasste Müller, und GestapoMüller hasste Schellenberg. Der finstere Österreicher Kaltenbrunner, als Leiter des Reichssicherheitshauptamts Schellenbergs und Müllers Chef, verfolgte den Zwist zwischen seinen Untergebenen mit Vergnügen, wie es überhaupt im Führerstaat gern gesehen wurde, wenn die Satrapen sich stritten. So weit wie Werdin aber hatte bisher kein SS-Mann die Grenzen überschritten, die ihm durch Dienstordnung und seine Aufgabe auferlegt waren. Immer wieder erwachte die Angst, sie würden ihm auf die Schliche kommen.
Um fünf Uhr hielt Werdin es nicht mehr aus im Bett. Er schmierte eine Margarinestulle und kochte sich Ersatzkaffee. Während das Wasser im Kessel über dem Gasfeuer zu dampfen begann, schaute er aus dem Küchenfenster im dritten Stock in der Kloedenstraße 9 in Kreuzberg. Der Darm kniff schon, aber Werdin wusste, dass er sich wieder in irgendeiner versauten öffentlichen Toilette entleeren musste. Der Ekel würde im Lauf des Tages abnehmen, aber nicht verschwinden. Er musste daran denken, in welchem Dreck die Soldaten an der Front lebten. Von wegen Romantik des Donnerbalkens.
Nach dem Frühstück wusch sich Werdin, zog die feldgraue Uniform an, schnallte das Koppel mit der Pistolentasche um und machte sich auf den Weg nach Lichtenberg. An der Gneisenaustraße nahm er die U-Bahn. Er fand keinen Sitzplatz und zwängte sich zwischen die Menschen, die zur Arbeit fuhren. Viele Frauen, alte Männer, Deutschlands letzte Reserve an der Heimatfront, sah man ab von den Scharen ausgemergelter Fremdarbeiter. Eine Frau mit braunem Kopftuch blickte stumpf ins Nirgendwo, ein alter Mann mit dunkelblauem Hut und schwerer Hornbrille schaute auf den Boden, als gäbe es dort etwas Spannendes zu beobachten. Werdin bemerkte kaum noch, dass die meisten Menschen es vermieden, ihn anzublicken, wenn er die Uniform mit dem Reichsadler am Arm trug.
Und wenn, dann schienen ihre Blicke zu fragen: Warum bist du starker junger Mann nicht an der Front? Warum müssen mein Mann, mein Sohn, mein Bruder ihre Köpfe hinhalten? Warum trägst du eine saubere Uniform, während andere im Schmutz liegen? Warum braucht deine Mutter keine Angst zu haben, ob der Postbote heute die furchtbare Nachricht bringt?
Werdins Mutter wohnte in Fürstenberg bei Frankfurt/Oder, sein Vater war vor gut drei Jahren in einer Eisenschmiede unter glühendes Erz aus Polen geraten, seine verbrannten Überreste lagen auf dem Friedhof in Fürstenberg. Vater und Mutter kamen aus Arbeiterfamilien, sie hatten wie selbstverständlich der SPD angehört und machten Werdin bittere Vorwürfe, als der erst der SA, dann der SS beitrat. »Ich hätte nie gedacht, dass mein Sohn, unser einziges Kind, mich einmal verraten würde. Na, wie viele Genossen hast du denn schon verprügelt?« Werdin war schweigend gegangen und hatte seitdem mit seinem Vater kein Wort mehr gewechselt. Er fand die Verdammung so verständlich wie ungerecht, und doch wusste er, dass sein Vater nicht anders denken konnte. Werdin fühlte sich nicht als Feind der Arbeiter, aber das durfte er nicht einmal seinen Eltern beweisen.
Seine Mutter besuchte jeden Tag das Grab ihres Mannes, mit dem sie zweiunddreißig Jahre verheiratet gewesen war. Wenn Werdin nach Fürstenberg fuhr, es war selten genug, kam er in Zivilkleidung, und beide mühten sich, so zu tun, als hätte es nie Streit gegeben. Werdin war traurig, wenn er sah, wie seine Mutter seit dem Tod des Vaters verfiel. Sie war gebrochen, und Werdin wusste, es gab nichts, was ihren Wunsch zu leben wieder erwecken könnte. Vielleicht würde sie ja noch erfahren, dass ihr Sohn den Vater nicht verraten hatte.
Als Werdin an diesem nebligen, kalten Morgen die Wönnichstraße in Lichtenberg erreichte, war er sich nicht sicher, ob er sich freuen sollte, als er Licht in der dritten Etage rechts sah. Er hätte sich geärgert, wenn er umsonst gefahren wäre, aber er hasste den Auftrag, den er sich gegeben hatte. Die Haustür war nicht verschlossen, Werdin stieg die Treppe hoch und klingelte kräftig an Rettheims Tür. Es dauerte eine Weile, bis sich in der Wohnung etwas tat. Dann hörte er den dumpfen Stoß der Krücken auf einem Teppich. Werdin bemerkte, dass er durch den Türspion gemustert wurde. Die Sicherungskette rasselte, und die Wohnungstür öffnete sich einen Spalt weit. Im verschlissenen blauen
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