Der 21. Juli
Bademantel sah der Major gar nicht mehr heldenhaft aus. Werdin roch starkes Parfüm und Alkohol. Der mittelgroße Mann war ungekämmt, hatte schmutzig braunes Haar und kräftige Augenbrauen. Der linke Mundwinkel hing ein winziges Stück herunter, was das Gesicht arrogant aussehen ließ. Unterstrichen wurde dieser Eindruck durch die heraustretenden Backenknochen. Der Mann sah so aus wie ein Offizier, den seine Untergebenen fürchteten. Aber vielleicht war er auch ein Waschlappen und markierte nur den Furchtlosen? Von der Sorte gab es viele. Werdin würde es erfahren.
Schon auf der Treppe hatte Werdin seinen SD-Dienstausweis in die Hand genommen und streckte diesen nun schweigend durch den Türspalt. »Aha, wohl von der Gestapo«, sagte der Major trocken. »Ganz allein und ohne Ledermantel?« Spott klang in der Stimme.
Werdin verließ sich einmal mehr darauf, dass kaum einer außerhalb der SS genau wusste, wo die Trennlinien zwischen Gestapo und SD verliefen. Auch Rettheim hatte offenbar keine Ahnung, dass der SD der Nachrichtendienst der SS war und keineswegs ein Organ der Geheimen Staatspolizei. Für die meisten Leute in der Wehrmacht war SS ohnehin gleich SS, wen interessierten die feinen Unterschiede bei den Totenkopfmännern. Aber die Gestapo fürchteten alle.
»Was wollen Sie?«, fragte Rettheim unfreundlich. Er sah nicht ängstlich aus.
»Können wir vielleicht drinnen reden?« Werdin schaute sich im Treppenhaus um, ob schon jemand zuhörte.
»Über was?«, fragte Rettheim.
»Über die Alexander-Bar, genauer, über Ihren denkwürdigen Auftritt dort. Noch genauer: über Wehrkraftzersetzung und Beleidigung des Führers. Lassen Sie mich rein.« Werdin klang energisch.
Der Major wurde blass. Jetzt fragt er sich bestimmt, woher ich seine Sprüche in der Bar kenne, dachte Werdin. Und warum ich ihn nicht einfach angezeigt habe, wo er doch todeswürdige Verbrechen begangen hat. Rettheim war verunsichert, er zögerte, blickte mit leeren Augen auf Werdin, dann an ihm vorbei ins Treppenhaus und zog endlich die Kette von der Tür.
Durch eine schmale und kurze Diele führte er Werdin über einen abgetretenen roten Läufer ins Wohnzimmer. Gläser mit Schmutzrändern und ein überfüllter Aschenbecher standen auf einem fleckigen Wohnzimmertisch, zwei alte Sessel und ein kleines Sofa mit ehemals beigem Bezug komplettierten die Einrichtung. An der Wand eine gelb gewordene Blümchentapete und verkleinerte Reproduktionen von Ölschinken. Es stank nach Rauch und Schnaps. Werdin spürte Übelkeit im Hals, aber er unterdrückte den Impuls, die Fenster aufzureißen.
Rettheim wies auf das Sofa und setzte sich auf einen der beiden schmuddligen Sessel. Er zog eine Schachtel Zigaretten aus der Bademanteltasche und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm einen tiefen Zug und lehnte sich zurück, die Überheblichkeit war in sein Gesicht zurückgekehrt.
Werdin nahm einen Zettel zur Hand und las ab: »Sie haben am 25. März, gegen 23 Uhr 40, in der Alexander-Bar, also in aller Öffentlichkeit, am Endsieg gezweifelt und den Führer beleidigt.«
»Selbstverständlich bin ich vom Endsieg überzeugt«, erwiderte Rettheim ruhig. »Ich kann das wohl besser beurteilen als Sie. An welchen Fronten waren Sie denn bisher? Das sind wilde Behauptungen, Scharführer, Unterstellungen. Was es nicht gibt, kann man nicht beweisen.«
Werdin erkannte die Verachtung, die Rettheim für die SS hegte. Er ignorierte, dass der Offizier ihn wohl bewusst mit dem falschen Dienstgrad ansprach. »Ach, wissen Sie«, erwiderte Werdin äußerlich nicht weniger gelassen, »wenn man so herumschreit, wie Sie in der Alexander-Bar, darf man sich über Zeugen nicht beklagen. Davon haben wir genug.« In Wahrheit hatte Werdin nicht eine einzige Zeugenaussage protokolliert.
Rettheim schwieg, zog an seiner Zigarette und blickte an die Wand. Er stemmte sich an einer Krücke hoch, sah Werdin fast freundlich an und sagte: »Ich muss mal austreten. Es kann ein bisschen dauern.« Er zeigte mit der Hand auf seinen halb vom Bademantel verborgenen Beinstumpf.
Werdin hörte ihn den Gang entlanghumpeln. Er würde nicht abhauen, ein Einbeiniger hatte keine Chance. Werdin ging zu einem Fenster und riss es weit auf. Der Himmel hing voll dunkler Wolken, es regnete kalt. Heute würde es zumindest am Tag wohl keinen großen Bombenangriff geben. Werdin sah sich um und staunte über den Schmutz überall. Er ging zum Flur und warf einen Blick in die Küche, deren Tür halb offen stand. Die
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