Der 21. Juli
Spüle war zugebaut mit schmutzigen Tellern, Gläsern und Geschirr. Zwei gefüllte Aschenbecher standen auf dem Küchentisch und eine fast leere Flasche Cognac. Woher kriegte der Mann Cognac?
Als Werdin ins Wohnzimmer zurückwollte, hörte er ein lautes Knarren. Es kam vom anderen Ende des Flurs, nahe der Wohnungstür. Dort vermutete Werdin das Badezimmer. Er näherte sich dessen Tür und horchte. Es war nichts zu hören. Er klopfte an die Tür und rief: »Rettheim!« Keine Antwort. Werdin versuchte, die Tür zu öffnen, sie war verschlossen. Er spürte, wie sein Herz plötzlich pochte, Schweiß nässte die Kopfhaut. Kurz entschlossen trat er mit aller Kraft in Höhe des Schlosses gegen die Badezimmertür. Die erwies sich als standhaft. Werdins Bein schmerzte, er warf sich mit der Schulter zweimal gegen die Tür, bis sie krachend aufsprang.
Rettheim hing an seinem dicken Bademantelgürtel an einem starken Lampenhaken an der Decke. Seine Augen starrten Werdin böse und leer an, die Zunge hing im rechten Mundwinkel. Die Krücke lag auf dem Boden. Der Bademantel hatte sich geöffnet, Werdin sah den schlecht verheilten Beinstumpf, der aus einer mit gelbbraunen Flecken übersäten Unterhose herausragte. Er griff nach einem Rasiermesser, das auf dem Waschbecken lag, sprang auf den Rand der Badewanne und schnitt den Bademantelgürtel unter dem Haken durch. Der Körper schlug auf den harten Kachelboden. An der Stirn blutete eine Platzwunde. Wer blutet, lebt, durchfuhr es Werdin. Er schleppte den schlaffen Körper durch die Diele zu einer Tür, hinter der er das Schlafzimmer vermutete. Er glaubte Rettheim leicht atmen zu hören. Mit dem rechten Ellbogen drückte er die Klinke herunter und zog Rettheim zum Bett. Er legte zuerst den Oberkörper aufs Bett, dann das Bein.
Werdin fühlte kalten Schweiß unter den Armen und im Gesicht. Es waren die Anstrengung und die Angst. Er hatte den Impuls, einen Arzt zu rufen, verzichtete aber darauf, weil das eine Untersuchung einleiten konnte, an deren Ende die Frage stehen würde, was er bei Rettheim zu suchen hatte. GestapoMüller hätte seine Freude daran, einen SD-Mann auszuquetschen. Werdin zog die Uniformjacke aus und wischte sich das Gesicht mit einer Ecke der Tagesdecke ab. Rettheim lag da wie tot, aber er schnaufte stärker. Das Genick war offenbar nicht gebrochen. Der Abdruck des Bademantelgürtels am Hals stach dunkelrot hervor. Werdin schlug Rettheim leicht auf beide Backen. Es half nichts. Er ging in die Küche, hielt ein schmutziges Geschirrtuch unter den Wasserhahn, wrang es leicht aus und trug es tropfend zum Schlafzimmer. Er legte Rettheim das Tuch auf die Stirn. Wasser lief über Rettheims Gesicht, vermischte sich mit dem Blut der Platzwunde und färbte das Unterhemd blassrot.
Was konnte er noch tun? Werdins Hektik verbarg seine Hilflosigkeit. Wenn Rettheim starb, was dann? Einfach abhauen? Daran hätte er denken müssen, bevor er Rettheim von der Decke abschnitt. Die Vorstellung, den Major wieder aufzuhängen, grauste ihn. Und er konnte nicht sicher sein, dass Rettheim ohne weiteres in der Statistik für Selbstmörder endete. Obwohl Selbstmord zur Mode wurde in Deutschland. Ein toter Major mit einer Platzwunde am Kopf mit Spuren, die eine doppelte Strangulation verrieten, an einem Seil in seinem Badezimmer - das war eine lohnende Aufgabe für Arthur Nebe und seine Spitzenleute in der Kriminalpolizei. Werdin konnte nur hoffen, dass der Mann überlebte. Er setzte sich auf die Bettkante und wartete. Nach zehn Minuten atmete Rettheim stärker, kurz darauf öffnete er die Augen, sah Werdin und schloss sie wieder. Plötzlich öffnete er die Augen erneut und hob den Kopf leicht an: »Sie haben mich abgeschnitten«, flüsterte er. »Warum?«
Ja, warum?, dachte Werdin. Vielleicht hätte ich Rettheim einen Gefallen getan, wenn ich ihn hängen gelassen hätte.
»Wollen Sie etwas trinken oder sonst irgendetwas?«, fragte Werdin.
Der Major schüttelte leicht den Kopf, seine Augen waren wieder geschlossen.
Werdin ging in die Küche, spülte ein Glas ab, füllte es mit Wasser. Er schob seine linke Hand unter Rettheims Kopf und hob ihn sanft an. Als er Rettheim das Glas an die Lippen setzte, nahm dieser einen kleinen Schluck. Er blickte Werdin verwundert an. »Eigentlich bevorzuge ich Cognac«, sagte er.
***
Standartenführer Werner Krause war verblüfft, vor allem aber war er zornig. Er hatte diese zerstörte Gestalt unterschätzt, die da vor ihm auf dem Stuhl saß. Sie hatten
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