Der 21. Juli
reichte Werdin die Hand und bedankte sich überschwänglich für die Hilfe im Café Kranzler. »Sie sind vielleicht ein seltsamer SS-Mann«, sagte Mellenscheidt.
»Das habe ich schon mal gehört«, erwiderte Werdin und lachte.
Mellenscheidt bot ihm einen Platz im Wohnzimmer an. Er verschwand einen Moment und kehrte mit einer entkorkten Flasche Weißwein zurück. »Wird Zeit, dass mal wieder eine geleert wird.«
Werdin traute sich nicht, noch einmal nach Irma zu fragen. Sie wird schon kommen, beruhigte er sich. Stattdessen sagte er, er habe schon lange keinen guten Wein mehr getrunken. Mellenscheidt berichtete stolz, vor dem Krieg habe er sich regelmäßig Wein aus Baden schicken lassen. 1938, als er ahnte, dass der Krieg nicht mehr lange auf sich warten ließ, habe er besonders viel bestellt. Die Flasche, die sie heute trinken würden, stamme aus dieser letzten Lieferung. Er goss sich einen Schluck ein und kostete. Dann schenkte er Werdin ein und füllte auch das eigene Glas.
Margarete hatte in der Küche einige Brote geschmiert und brachte sie ins Wohnzimmer. »Irma ist leider nicht da, sie hätte sich gefreut, Sie wieder zu sehen«, sagte Margarete.
»Wo ist sie?«
»Sie übernachtet bei einer Freundin, in einem kleinen Dorf im Spreewald.«
»Dort ist sie wenigstens sicher.«
Werdin staunte über sich selbst. Er war nicht so stark enttäuscht, wie er es vorher befürchtet hatte. Er wusste Irma in Sicherheit vor den Bomben, auch wenn die Innenstadt viel heftiger angegriffen wurde als die Außenbezirke. In Biesdorf lebte es sich ruhiger als in Mitte.
»Schade«, sagte er. Die Freundlichkeit dieser Menschen überwältigte ihn. Es geschieht einem selten, dass man sich bei Fremden schon nach kurzer Zeit fast wie zu Hause fühlt.
»Sie müssen noch mal kommen, wenn sie da ist, nächste Woche vielleicht«, sagte Mellenscheidt. Es klang so, als meinte er es kein bisschen anders, als er es gesagt hatte.
»Wenn ich darf«, erwiderte Werdin.
»Natürlich dürfen Sie«, sagte Mellenscheidt. »Ich weiß gar nicht, wie ich das wieder gutmachen kann, was Sie für die beiden getan haben.«
Margarete nickte.
»Das war fast nichts«, sagte Werdin. »Im schlimmsten Fall hätten Sie ein, zwei Stunden auf einem Polizeirevier warten müssen, bis Irma. Ihren Ausweis geholt hätte. Den Kopf hätten die Ihnen nicht abgerissen.« Werdin erschrak, er hatte »Irma« gesagt, nicht »Fräulein Mellenscheidt«, das war unhöflich.
Aber die Mellenscheidts störte es nicht, sie ließen sich jedenfalls nichts anmerken. »Ich wäre fast gestorben, Sie haben mich gerettet«, sagte Margarete. Sie lächelte freundlich. »Aber wahrscheinlich habe ich mich zu sehr geängstigt.«
»Dass man sich heutzutage von irgendwelchen Leuten anschnauzen lassen muss«, sagte Mellenscheidt zornig. »Was machen Sie denn bei der SS?« Er schaute Werdin aufmerksam an.
»Ich bin beim SD, dem Sicherheitsdienst.«
»Spionage?«
Werdin lächelte. »So ungefähr.«
»Aber Sie tragen die gleiche Uniform wie diese Brüder.«
»Ja, wenn die Brüder nicht in Zivil sind oder sich in Ledermänteln verstecken.«
»Alles SS?«
»Alles SS.«
»Bei uns im Betrieb waren zuletzt auch Leute von der Gestapo, wegen Sabotage. Diese Herren würde ich nicht zum Wein einladen.«
»Ich auch nicht«, sagte Werdin.
»Sie sind ein seltsamer SS-Mann.«
»Finde ich auch.« Werdin lachte. Es war ihm herausgerutscht, aber er bedauerte es nicht.
Mellenscheidt betrachtete ihn neugierig. »Was treibt so jemanden wie Sie zur SS?«
Werdin nahm einen Schluck Wein, er blickte zu Margarete, dann zu ihrem Mann. Sie waren ihm auf den Fersen, sie würden ihn jagen, er brauchte ein Versteck, wenn es so weit war.
»Ich bin gar kein SS-Mann«, sagte Werdin. »Ich tue nur so.«
Mellenscheidt schüttelte leicht den Kopf.
»Mehr will ich Ihnen nicht sagen, es würde Sie gefährden.«
»Nur eine Frage, ich muss das wissen: Arbeiten Sie für den Feind?« »Nein«, sagte Werdin. »Nicht mehr. Eigentlich habe ich es nie getan.«
»Warum setzen Sie sich dieser Gefahr aus? Ich könnte Sie verraten.«
»Sie werden mich nicht verraten«, sagte Werdin. »Sie nicht.«
Margarete nickte.
»Außerdem kommt es darauf auch nicht mehr an«, sagte Werdin.
»Sie sind verzweifelt?«, fragte Margarete.
»Noch nicht«, antwortete Werdin.
»Sie haben gegen unser Land gearbeitet und fürchten, entdeckt zu werden?«
»Zuerst habe ich mir eingebildet, für unser Land zu arbeiten. Inzwischen tue ich
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