Der 26. Stock
den
Schaukelstuhl heran.
»Warum gefällt sie dir nicht?«, wollte Isabel wissen.
»Man kann schöne Dinge sehen«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen, »aber auch böse Leute. Das mag ich nicht.«
Isabel nickte. Nach allem, was die Kleine erlebt hatte, konnte sie ihr da nicht widersprechen. Der einzige Mensch, der sie
bis zum Ende begleiten würde, lebte diesseits der Fensterscheibe, nicht draußen.
»Ich komme von dort oben«, sagte María überzeugt und zeigte mit dem Finger auf die Wolken. »Ich komme von irgendwo ganz nah
bei einem Stern. Und meine Mama auch. Und mein Opa … und Sie.«
»Ich auch?«, fragte Isabel, beglückt, in die Reihe ihrer vertrauten Menschen aufgenommen worden zu sein.
»Ja.« Das Mädchen drehte sich um und sah sie an. »Wir wissen das bloß nicht mehr. Mein Opa sagt, dass wir eines Tages dorthin
zurückkehren und dass wir dann lachen werden, weil wir so dumm waren und einen so schönen Ort vergessen haben.«
Isabel verstand. Sie lächelte und strich der Kleinen übers Haar. Nach kurzem Zögern ließ María die Berührung zu, drehte sich
dann aber wieder zum Fenster und verstummte. Da begriff Isabel, was Mateo empfunden haben musste, als er mit der Zeit verstanden
hatte, dass das Mädchen keine Strafe war, sondern ein Geschenk, das Schönste, was er in seinem Leben haben konnte. Sie hatte
etwas Magisches an sich.
»Trinken Sie Kaffee?«, erkundigte sich Mateo, der gerade mit einem Suppentopf und Besteck aus der Küche kam. »Sonst hätte
ich noch ein wenig Messwein, wenn Sie möchten.«
Isabel lehnte dankend ab: Sie wolle nur ein Glas Wasser. Mateo teilte ein Brot in drei Teile und holte aus einem Schränkchen,
dem einzigen Möbelstück im Wohnzimmer, drei tiefe Teller. Er sprach ein Tischgebet, und sie aßen schweigend ihre Suppe, still
über die Teller gebeugt, wie Isabel es von früher kannte. María zitterten die Hände, und Isabel überkam ein tiefes Mitleid
und der starke Wunsch, das Mädchen zu füttern. Nach dem zweiten Gang, einem Teller Schmorfleisch, räumte der Großvater ab,
während die Kleine Isabel musterte.
»Ich kannte Sie nicht, deshalb habe ich nicht aufgemacht. Ich bin auf die Bank gestiegen und habe rausgeschaut, aber aufgemacht
habe ich nicht.«
»Das ist doch nicht schlimm«, versicherte Isabel. Sie sah sich noch vor der Tür stehen, überzeugt, dass jemand sie durch den
Spion hindurch beobachtete. »Du machst das ganz richtig. Mach lieber niemandem auf, den du nicht kennst.«
»Mein Opa hat gesagt, dass Sie einen kleinen Bruder haben, aber er ist älter als ich, stimmt’s?« Isabel nickte. »Wie heißt
der denn?«
»Er heißt Teodoro, aber wir nennen ihn alle Teo. Mein Vater hat ihn so genannt, weil der Name ›Geschenk Gottes‹ bedeutet.Er hat immer gesagt, dass mein Bruder und ich die größten Geschenke für ihn wären, so wie du für deinen Großvater.«
Isabel erzählte María von ihrem Bruder und genoss das wie jedes Mal, wenn jemand etwas über Teo hören wollte. Die Kleine hörte
aufmerksam zu, und ihr Gesicht strahlte, als Isabel begann, von der Schule zu reden, durch die Teo Freundschaften geschlossen
und eine Arbeit gefunden hatte. Es war, als erzählte Isabel ihr von einem Ort jenseits des Regenbogens, denn María hörte nicht
auf, Fragen über die Schule zu stellen, über die Lehrer, die Fächer, die dort unterrichtet wurden …
»Ich kann nicht mehr in die Schule, ich bin nämlich krank«, sagte sie schließlich. »Aber früher bin ich schon zur Schule gegangen,
und wenn ich wieder hin kann, sehe ich endlich meine Freundinnen wieder.«
»Na klar«, sagte Isabel. »Und was willst du werden, wenn du mal groß bist?«
»Ich werde Astronaut!«, rief María und zeigte aufs Fenster. Um den wunderschönen Ort nahe den Sternen kennenzulernen, dachte
Isabel. Sie konnte das sehr gut verstehen. Ja, vielleicht würde María eines Tages durch das All fliegen und dorthin gelangen.
Mateo brachte eine kleine Schachtel weiße Schokolade aus der Küche.
»Sie mögen doch Schokolade?«
Isabel nickte. Seit langem hatte sie sich nicht so dankbar gefühlt. María griff schon nach der Schokolade, doch Mateo ermahnte
sie.
»Isabel ist unser Gast. Lass sie als Erste nehmen.«
María nickte. Dabei verzog sie weder das Gesicht noch beschwerte sie sich. Schüchtern nahm Isabel ein Täfelchen. Eine Sekunde
später hielt das Mädchen schon zwei Stücke in der Hand. Offenbar war sie es nicht gewöhnt,
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