Der 26. Stock
innen geschlossen, trotz des Windeshörte sie es ganz genau, und Schritte entfernten sich von der Tür.
»Hallo? … Hallo!«
Nichts. Der Bewohner des Hauses hatte genug von ihr. Bald würde sie bis auf die Knochen nass sein, und wieder hätte sie nichts
erreicht. Aber sie konnte nicht mehr. Es war kalt, und bald würde die Sonne untergehen. Vielleicht würde sie morgen noch mal
kommen, aber sicher war sie nicht. Sie wollte schon zurück zu ihrem Auto gehen, als sie plötzlich einen kräftigen Windstoß
spürte und ein jämmerliches Knarzen hörte. Isabel drehte sich zu dem Haus um. Es war noch immer verschlossen, aber die Holztür
nebenan stand ein Stück weit offen. Sie trat näher und atmete tief durch. Sie tastete in ihrer Manteltasche nach dem Handy,
wischte sich mit dem Ärmel den Regen aus dem Gesicht und stieß die schwere Holztür auf.
Am Anfang sah sie nur zwei große weiße Kerzen, die den hinteren Teil der Kapelle und den Altarraum erleuchteten. Es roch feucht,
und der Geruch mischte sich mit dem angenehm süßlichen Duft frischer Blumen. Als Isabels Augen sich an das schummrige Licht
gewöhnt hatten, riss sie vor Staunen den Mund auf. Sie fühlte sich in eine andere Welt versetzt, in eine andere Zeit. Die
Wände des länglichen kleinen Raums waren aus Mauerwerk, das jahrhundertealt wirkte. Zu beiden Seiten verliefen Säulenreihen,
die zwei enge Gänge vom Mittelschiff abtrennten. Vor einigen wenigen Bankreihen stand ein schlichter steinerner Altar, von
einer weißen Leinendecke bedeckt. Dahinter hing ein Jesus am Kreuz, rechts und links davon befanden sich zwei Engel. Isabel
tat einen Schritt ins Innere der Kapelle und sah sich um. Sie war allein. Durch die offene Tür fiel das letzte Tageslicht
herein, und die Schatten an den Wänden tanzten zu dem Flackern der zwei großen Wachskerzen, der einzigen Lichtquelle. Isabel
trat an den Altar und betrachtete die Rosen, Lilien und Margeriten, die zu Jesu Füßen den Boden schmückten. Das Duftgemisch
war durchdringend, fast betörend. Sie setztesich hin und musterte still die Gesichtszüge des Gekreuzigten. Der Körper war roh gehauen, die Füße nichts als flache Zylinder
mit ein paar Einkerbungen, die die Zehen andeuten sollten. Am Rumpf war kein Bauchnabel zu sehen, und selbst die Wunde in
der Seite fehlte. Doch all das hatte der Bildhauer durch die Gestaltung der Gesichtszüge wettgemacht. Der Ausdruck von Gelassenheit
und Leid war ehrfurchtgebietend.
»Wie schön, Sie zu sehen.«
Isabel drehte sich erschrocken um. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die Stimme kam ihr allerdings bekannt vor. An einer der
Säulen stand ein Mann und musterte sie; sein Gesicht lag im Schatten. Als er auf sie zukam, stand sie hastig auf.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt, Señorita Isabel.«
»Mateo!« Isabel war so überrascht, dass sie fast geschrien hätte. Da stand er und lächelte seelenruhig. Mateo war der letzte
Mensch, den sie hier erwartet hätte. »Wie geht es Ihnen? Was … was machen Sie hier?«
Der alte Fahrstuhlführer kam näher und wollte ihr die Hand reichen, doch Isabel küsste ihn auf beide Wangen.
»Ich wohne hier. Gefallen Ihnen die Blumen?«
»Ja, sicher.« Isabel nickte. »Aber jetzt erzählen Sie, wie geht es Ihnen? Ich habe mich ja nicht von Ihnen verabschieden können.«
Die Worte sprudelten nur so aus Isabel heraus. Der alte Mann fasste sie an der Hand. Seine eigenen Hände waren eiskalt. Sie
gingen zu einer Bank und setzten sich.
»Damit hätte ich nie gerechnet, Señorita Isabel. Ich habe es schon manchmal bedauert, Ihnen keine Adresse hinterlassen zu
haben. Aber dann habe ich mir gedacht, wenn Sie dem alten Mateo einen Besuch abstatten möchten, werden Sie mich schon finden.
Sie sind ja eine kluge Frau.«
Isabel legte ihre zweite Hand auf die seinen. Er tat ihr leid. Vielleicht lag es ja an der kargen Beleuchtung, aber er kam
ihr wesentlich älter vor, als sie ihn in Erinnerung hatte. Nun wollte sie ihm wenigstens die Hände wärmen.
»Ein Freund hat mir Ihre Adresse beschafft.«
Mateo nickte, als bedürfte es keiner weiteren Erklärung. Isabel erinnerte sich jetzt wieder an alles. Klar, sie hatte versucht,
Mateo ausfindig zu machen, und Carlos hatte versprochen, ihr dabei zu helfen. Sie hatte ihm gesagt, sie mache sich Sorgen
um den alten Mann, deshalb hatte Carlos wohl geschrieben: »Ich glaube, das wird Dir guttun.« Und die Verrückte im Haus nebenan,
wie das
Weitere Kostenlose Bücher