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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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Mädchen sie genannt hatte, das war dann   …
    »Sie leben nebenan, nicht wahr?«, fragte Isabel.
    »Ja, mit meiner Enkelin María. Früher war das hier ein Weinkeller. Ein pensionierter Priester hat das Grundstück gekauft,
     lange bevor die neue Kirche gebaut wurde. Die Leute im Viertel sollten einen Ort haben, wo sie zum Gottesdienst gehen konnten,
     und die Bedürftigen ein Dach über dem Kopf. Der Priester bot mir das Erdgeschoss als Wohnung an. Er selber hat im ersten Stock
     gelebt, bis er gestorben ist. Viele Leute kamen her, um ihn zu hören. Ich mache die Kapelle sauber und schließe auf, damit
     die Leute beten können. Ich glaube, der Herr Pfarrer hat im Testament verfügt, dass das Haus nicht verkauft werden soll, solange
     ich lebe.« Mateo hob den Blick zu den Altarblumen unterhalb der Christusfigur. »Hinten gibt es einen kleinen Garten. Vor einiger
     Zeit habe ich beschlossen, dort Blumen anzupflanzen, bis meine Kleine gesund ist.«
    »Wie geht es Ihrer Enkelin denn? Gestern war ich auch schon hier und habe geklingelt. Ich glaube, sie hat mich durchs Guckloch
     gesehen, aber sie hat nicht aufgemacht.«
    Mateo verharrte einen Augenblick schweigend. Seine Wangen zuckten.
    »Es geht ihr schlecht«, sagte er mit bebender Stimme. »Bis vor kurzem war noch alles in Ordnung, aber dann   … Der Arzt sagt, dass sich so etwas schnell ändern kann, weil man das bei diesen Tumoren nicht so genau weiß, nicht wahr?
     Manchmal fängt die Kleine ohne erkennbaren Grund zu weinen an, oder sie schläft plötzlich ein und schreit mit geschlossenen
     Augen, und ich gebe ihr dann ein paar Pillen, die der Doktor ihr verschrieben hat, undwarte, dass sie sich beruhigt und aufhört zu schwitzen. Wir   … wir können nicht mal mehr auf die Straße, denn sie kann nicht mehr laufen. Mein kleines Mädchen   …«
    Mateos Stimme wurde immer leiser. Er war voller Trauer. Wie lange hatte er wohl mit niemandem mehr gesprochen? Wer kümmerte
     sich um ihn? In der Kapelle breitete sich Grabesstille aus.
    »Haben Sie eine neue Stelle gefunden?«, erkundigte Isabel sich schließlich.
    Mateo sah sie an. Seine Augen glänzten feucht. Er musste schon sehr viele Tränen vergossen haben.
    »Einen müden alten Mann will man doch nirgends haben, Señorita Isabel. Aber erzählen Sie mir doch von sich«, sagte Mateo plötzlich
     in einem ganz anderen Ton. »Wie geht es Ihrem Bruder? Was gibt es Neues?«
    Isabel verstand. Er wünschte sich, ihren Besuch angenehm zu gestalten und seine Traurigkeit für sich zu behalten. Die Kerzenflammen
     flackerten, und für einen kurzen Moment wurde der Raum heller erleuchtet. Da sah Isabel, dass es hinter einer der Säulen eine
     Tür gab, die bisher in der Dunkelheit verborgen gewesen war. Daneben befand sich ein kleiner Beichtstuhl, schmucklos bis auf
     ein zerknautschtes rotes Kissen, auf das sich der Bußfertige knien konnte.
    »In der Firma läuft es irgendwie nicht ganz rund«, sagte Isabel. »Wie meinen Sie das, Señorita Isabel?«
    Sie schüttelte den Kopf. Wenn der Zufall sie hierher geführt hatte, dann sicher nicht, um Mateo noch weitere Sorgen aufzuladen.
    »Es passieren seltsame Dinge«, sagte sie deshalb nur. Dann hob sie die Schultern und erklärte damit das Thema für abgeschlossen.
     »Aber das wird sich schon wieder einrenken.«
    Sie spürte, wie Mateos Hand den sanften Druck verstärkte.
    »Señorita Isabel«, sagte Mateo langsam und hob den Blick zur Christusfigur. »Meine Eltern waren gute Menschen, und sie haben
     mich bis zu ihrem Tod geliebt. Als meine Tochter zur Welt kam, dachte ich, sie sei ein Geschenk des Himmels. Dann starbmeine Frau, und die Kleine und ich blieben allein. Ich habe sie, so gut ich konnte, großgezogen. Dass sie von einem Mann schwanger
     wurde, der plötzlich verschwand, hat mich nicht gestört. Aber dass sie ihr Kind verließ, als die Tumore festgestellt wurden,
     das war furchtbar. Ich habe María als zweites Geschenk angenommen. Aber Sie sehen ja, wie es ist, so langsam fürchte ich,
     dass mir das Leben María nehmen wird. Viele Nächte lang habe ich an die Decke gestarrt und unseren Herrn gefragt, warum ich
     nicht etwas Gutes, Wundervolles für mich haben kann, etwas, das besonders und doch auch mein ist, und mit der Zeit habe ich
     die Antwort erfahren.«
    »Und zwar?«, fragte Isabel.
    »Dass ich es bereits hatte. Eines Morgens wachte ich auf und sah meine Enkelin aus dem Fenster schauen. Sie war ganz versunken
     und besah sich die Wolken am Himmel.

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