Der 26. Stock
Sie würde nach Sternschnuppen Ausschau halten, sagte sie. Verstehen Sie? Keiner schaut
im Morgengrauen nach Sternschnuppen, nur sie. Und was ist, wenn eines Tages doch eine Sternschnuppe auftaucht? Sie allein
würde es miterleben, sie allein könnte sich etwas wünschen. Und da habe ich gedacht: Wenn Gott mir einen so besonderen Menschen
geschenkt hat, dann muss ich ihm dafür dankbar sein, unter allen Umständen. Er hat für alles seine Gründe.« Mateo hielt kurz
inne und sah Isabel an. »Sie sind ein guter Mensch, Señorita Isabel, vertrauen Sie Ihm. Mehr brauchen Sie nicht zu tun. Sie
werden schon sehen, dass Er hilft.«
Isabel nickte. Sie fühlte sich ruhiger. Da hatte sie Mateo kaum etwas erzählt, und doch schien er ihr eine zentnerschwere
Last von den Schultern genommen zu haben. Unwillkürlich fiel sie ihm um den Hals. Seit sie Carlos zum letzten Mal gesehen
hatte, war ihr nicht mehr so leicht zumute gewesen.
»Außerdem«, fuhr Mateo fort, »das Beste, was einem passieren kann, ist, dass man seinen Platz in der Welt findet, und meiner
ist an Marías Seite. Wenn sie nicht wäre, könnte ich nicht mehr weitermachen. Möchten Sie sie kennenlernen?«
Isabel nickte entschieden. Mateo stand auf und ging ein wenighinkend zur Tür. Er schloss sie und sicherte sie mit einem Brett. Dann ging er zurück zu Isabel und an ihr vorbei auf die
Säulen zu. Sie folgte ihm durch die Tür in einen engen, hohen Flur, der sie an Häuser erinnerte, wie sie sie gelegentlich
auf dem Land gesehen hatte. An den Wänden hing nichts als einige irdene Teller und ein vergilbtes Foto im Holzrahmen, das
zwei junge Brautleute neben einem älteren Ehepaar zeigte.
»Das ist am Tag meiner Hochzeit«, sagte Mateo, als er sah, dass Isabel das Bild neugierig betrachtete. »Das da sind meine
Schwiegereltern. Sie sind gestorben, ohne ihre Enkelin kennenzulernen.«
Vier Türen gingen von dem Flur ab, an dessen Ende man in eine winzige Diele gelangte. Eine Holztreppe führte in den ersten
Stock. Mateo trat beiseite und bat Isabel in den ersten Raum auf der rechten Seite. Das Zimmer war weiß gestrichen. In der
Mitte stand ein Tisch mit einer bis auf den Boden reichenden, mehrfach geflickten karierten Decke. In einer Ecke döste ein
dünner Windhund vor sich hin; er hob den Kopf und sah Isabel an.
»Der Hund ist uns vor vier Monaten zugelaufen. Er stand starr vor Kälte an der Haustür. María hat ihm ein Stück Brot gegeben,
und seitdem will er nicht wieder weg.«
Der Hund stand auf, ging zu Isabel hinüber und beschnupperte ihre Hand. Reflexartig zog sie sie zurück.
»Keine Angst. Der schaut nur, ob er Glück hat und vielleicht etwas zu fressen bekommt. Dieser Hund gibt nie die Hoffnung auf.
María,schau, wer dich besuchen kommt!«
Das Mädchen, das die Stirn ans Fenster drückte und von dort aus die Straße beobachtete, gab keine Antwort. Mateo trat an den
alten Korbschaukelstuhl, in dem die Kleine saß, und strich ihr behutsam ein paar gelbliche Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Sieht aus, als wäre sie gerade erst aufgewacht«, sagte er entschuldigend. »Sie hat oft Albträume … Aber aus dem Fenster zu schauen macht ihr Spaß, nicht wahr, Schatz? Komm, sag Señorita Isabel Guten Tag,.«
Das Mädchen drehte sich langsam um. Isabel war baff. DieKleine war bildhübsch. Sie hatte sanfte Züge, eine rosige Haut und einige Sommersprossen. Zwei große grüne Augen sahen Isabel
neugierig an. Sie lächelte nicht, sagte kein Wort und drehte sich dann wieder weg.
»María, sei brav«, bat Mateo, doch Isabel lächelte und winkte freundlich ab. »Ich weiß nicht, was sie da draußen gesehen haben
kann … Bleiben Sie zum Abendessen?«
Isabel sagte, sie wolle keine Umstände machen, doch der alte Mann bestand auf seiner Einladung und machte sich auf den Weg
in die Küche.
Draußen regnete es noch immer heftig, und die Kälte drang ins Haus, das offenbar über keine Heizung verfügte. Sie nahm Platz
und bedeckte die Beine mit einer warmen Decke.
Die Kleine drehte sich abermals um, sah sie an und bückte sich nach einem Stecker, den sie in eine Steckdose steckte. Dann
sah sie wieder aus dem Fenster. Ein altertümlich wirkender Heizstrahler ging knisternd an. Noch bevor sie die Wärme überhaupt
spüren konnte, war Isabel wohler.
»Die Straße gefällt mir nicht.«
Isabel sah zu dem Mädchen hinüber, das sein Gesicht wieder an die Scheibe presste. Sie rückte mit ihrem Stuhl näher an
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