Der 26. Stock
gedacht, ich sehe besser mal nach. Erst habe ich an der Zimmertür gehorcht. Als ich
diesen angeblichen Arzt dann Latein reden hörte, bin ich rein. Der Kerl hatte Carlos mit Isolierband den Mund zugeklebt und
hielt ihm mit den Fingern die Nase zu.«
Isabel stand auf. »Aber wer war das? Wer kann jemandem wie Carlos so etwas antun wollen?«
»Keine Sorge, Señorita Alvarado«, sagte der Inspektor gelassen, »dazu kommen wir noch. Nehmen Sie bitte Platz.«
Isabel gehorchte und schloss die Augen. Sie spürte, wie die Aufregung der letzten Stunden ihr die Tränen in die Augen trieb.
»Bevor ich etwas unternehmen konnte, hat sich der Mann aus dem Fenster gestürzt.« Der Inspektor machte eine dramatische Pause
und setzte dann seinen Bericht fort. »Nachdem ich sichergestellthatte, dass es Carlos gut ging, habe ich vom Fenster aus gesehen, wie der Täter auf die Büsche zurannte. Ich habe drei Schüsse
auf ihn abgegeben, aber er ist weitergelaufen, und dann habe ich ihn aus den Augen verloren. Bis der Wachdienst das Gelände
abgeriegelt hatte, war er vermutlich schon entkommen.«
»Aber das ist doch gar nicht möglich, Inspektor.« Zac beugte sich in seinem Sessel vor. »Einen Sprung aus dem vierten Stock
überlebt man nicht.«
»Drei Schüsse von mir hat bislang auch noch keiner überlebt. Ich bezweifle, dass unsere Zivilstreife ihn fasst. Ich schwöre
Ihnen, als ich ihn so wieselflink im Gebüsch verschwinden sah, nach einem solchen Sprung, da kam er mir mit seinem weißen
Kittel wie ein Gespenst vor, ein Geist von irgendeinem verfluchten Ort.«
Ein Schauder fuhr Isabel über den Rücken, und dem Inspektor entging das nicht. Er taxierte sie einige Sekunden lang.
»Zum Glück zeigt mein Fund, dass der Typ gar nichts von einem Gespenst hat.«
Der Polizist legte die mitgebrachte Tüte auf den Tisch und hielt sie so, dass man ihren Inhalt sehen konnte. Isabel und Zac
wechselten verständnislose Blicke.
»Das ist sein Kittel«, sagte Isabel schließlich. »Der Arztkittel. Und das sind Blutspuren, oder?«
»Ja, das ist sein Blut«, bestätigte der Inspektor selbstzufrieden. Er zeigte auf ein Loch im Stoff. Es hatte einen geschwärzten
Rand. »Sehen Sie? Das ist ein Einschussloch. Und es gibt drei davon. Ich habe ihn kein einziges Mal verfehlt, und nach dem
Zustand des Kittels und der Menge Blut zu urteilen, hatte der Mann keine kugelsichere Weste an. Nachdem das Gelände abgeriegelt
war, haben wir alles durchkämmt. Wir haben seine Blutspur gefunden, durchs Gebüsch und – auf einem kleinen Umweg – zum Ausgang.
So sieht es also aus.«
Isabel räusperte sich und wandte den Blick von dem makabren Kleidungsstück.
»Das heißt, der Mann hat versucht, Carlos zu ermorden? Hatman eigentlich an dem Kittel irgendwelche Hinweise auf seine Person gefunden?«
»Ach, wissen Sie, Señorita Alvarado«, antwortete Márquez sarkastisch, »im Unterschied zu dem, was man in Fernsehserien sieht,
hinterlassen Kriminelle eher selten ihren Personalausweis.«
Isabel wollte schon widersprechen, doch der Inspektor schnitt ihr das Wort ab.
»Es ist sowieso unwahrscheinlich«, fuhr er fort, »dass der Mann aktenkundig ist. Ich habe noch nie von einem gehört, der einen
Sturz aus dem vierten Stockwerk und drei Kugeleinschüsse überlebt, in irrem Tempo weiterrennt und vom Tatort verschwindet,
obwohl er blutet wie ein Schwein. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber dass so ein Typ frei herumläuft, finde ich
ziemlich beunruhigend. Und dazu kommt noch etwas: Mir passt es nicht, dass womöglich alles nur deshalb passiert ist, weil
Sie beide mir wichtige Informationen vorenthalten.«
Der Polizist ließ sein Gewicht auf die Rückenlehne des Stuhls sinken, verschränkte die Arme und sah erwartungsvoll zwischen
Isabel und Zac hin und her.
»Was ist, haben Sie mir nichts zu sagen?«, fragte er nach einigen Sekunden.
Zac sah Isabel an, doch sie senkte den Kopf und betrachtete ihre Hände. Was sollte sie Márquez erzählen? Vielleicht, dass
in letzter Zeit vielen Leuten aus der Firma seltsame Dinge passierten, was mit einer CD zu tun haben könnte, die Carlos auf
einem Postamt in der Innenstadt hinterlegt hatte? Sie hätte es versuchen können, aber irgendetwas hielt sie davon ab, denn
irgendwie hatte sie das Gefühl, dass alles nur noch schlimmer würde, wenn die Polizei sich einmischte. Hätte die Polizei das
Problem lösen können, so hätten bestimmt Vera oder Carlos sie schon
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