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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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bekam, zitterte seine Hand so sehr, dass es ihm erst im
     dritten Versuch gelang, sie in den Schlitz einzuführen. Einen Knopf zu drücken, erwies sich als unnötig. Wie beim letzten
     Mal setzte sich der Aufzug von selbst in Bewegung. Teo bückte sich und zog den Gegenstand hervor, den er in seinen Overall
     gewickelt hatte. Als er die Videokamera auspackte, sah ihn das Auge der Kamera direkt an. Sie schien sich zu fragen, wozu
     er sie wohl mitgebracht hatte. Teo hielt die Kamera fest in der Hand. Er wollte verhindern, dass er sie vor lauter Zittern
     fallen ließ und die Chance verspielte, einen Beweis zu erstellen.
    Die Fahrt nach oben verlief genauso wie am Tag zuvor. Der Aufzug ächzte, als er an Fahrt aufnahm. Wieder wurde Teo von einem
     leichten Schwindel befallen, doch diesmal erschrak er nicht so sehr. Er schloss die Augen und presste die Kamera an die Brust.
     Er bemühte sich, an den Tag zu denken, als Carlos sie ihm geschenkt hatte, und wie nett es im Zoo gewesen war. Carlos war
     sicher auch mutig. Sonst hätte seine Schwester ihn nicht so gemocht. Er wünschte, die beiden wären jetzt bei ihm und legten
     ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen. Teo hielt die Luft an und biss die Zähne zusammen. Carlos und Isabel
     waren tatsächlich bei ihm. Irgendwie waren sie da, und sie würden ihm helfen. Auf einmal blieb alles stehen. Teo taumelte,
     aber es gelang ihm, sich auf den Beinen zu halten. Er machte die Augen einen Spalt auf und schloss sie gleich wieder. Das
     Licht war ausgegangen. Er wusste, was als Nächstes passieren würde, aber dennoch lief es ihm eiskalt über den Rücken, als
     die kühle Hand sich auf seine Schulter legte. Das war weder Carlos noch Isabel. Das war jemand anderes.
    »Teo   …« Dieselbe sanfte Stimme rief nach ihm. Sie wirkte schwächer als am Vortag. Er atmete tief ein, machte die Videokamera bereit,
     hielt den Atem an und drehte sich um.
    »Teo, hau ab!« Als er die Augen öffnete, sah er durchs Objektiv dasselbe Bild, das ihn in der vergangenen Nacht in seinen
     Albträumen heimgesucht hatte. Die Frau beugte sich zu ihm, dasGesicht noch hinter dem Spiegelglas, und ihr dichtes blondes Haar bedeckte die leere Hälfte ihres schönen Gesichts. Teo machte
     einen Schritt rückwärts, und die Elfenbeinhand griff beim Versuch, ihn zu packen, ins Leere. »Hau ab, lauf schnell fort von
     hier!«
    Die Stimme klang fern und kläglich, und auf dem fahlen Gesicht lag ein flehentlicher Ausdruck. Teo hielt die Kamera fest und
     tastete mit der freien Hand seine Taschen ab. Sofort begriff er, dass er vergessen hatte, das Handy einzustecken. Panik ergriff
     ihn. Hinter ihm ertönte der Signalton zum Öffnen der Tür, und das unverdeckte Auge der Frau weitete sich vor Schreck. Teo
     hörte, wie die Türen aufglitten, und machte noch einen Schritt zurück, ohne die Kamera von der Frau zu wenden. Sie schien
     sich zu strecken, um ihn mit der Hand zu erreichen, während sie ein ums andere Mal ihre Bitte wiederholte.
    »Warum bist du zurückgekommen? Hau ab!« Derselbe eisige, stinkende Atem schlug Teo ins Gesicht, gefolgt von einem tiefen,
     kehligen Gesang wie tausend Luftblasen, die an der Oberfläche eines schlammigen Sumpfes zerplatzten. »Hau ab   …«
    Der Rest ging zu schnell, als dass Teo eine überlegte Entscheidung hätte treffen können. Als er sich gerade umdrehen wollte,
     wandte sich die Frau zur Aufzugtür, die im Spiegel noch immer geschlossen war, sah dem Jungen durch die Kameralinse fest in
     die Augen und rannte auf das Glas zu, das sie von Teo trennte. Die blankgeputzte Oberfläche zersprang in tausend Stücke. Etwas
     Puppenähnliches, eine Marionette aus Lumpen, Haut und Haaren fiel Teo zu Füßen und klammerte sich an seine Beine, und dabei
     hob sich der Kopf und schrie zuckend:
    »Hau aaaaab!«
    Teo handelte instinktiv, wie auf der Flucht vor einem wilden Tier. Er schüttelte die Puppe ab und sprang aus dem Lift. Er
     landete auf allen vieren. Ein stechender, trockener Schmerz durchfuhr sein Knie, er heulte auf. Die Kamera lag neben ihm,
     intakt. Teo hörte, wie hinter ihm die metallene Aufzugtür wieder zuglitt. Alles war so schnell gegangen, dass er es noch kaum
     begriff. Erstarrte auf den Teppich. Auf dem Boden, genau dort, wo er mit dem Knie aufgeschlagen war, breitete sich auf dem dunklen Teppich
     ein kleiner Blutfleck aus. Er fasste sich ans Knie, doch es tat so weh, dass er die Hand sofort wieder zurückzog. Er sah sich
     um. Nichts. Er

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