Der 26. Stock
Ohren gepresst, damit das ohrenbetäubende Summen Tausender von Fliegen ihr nicht das Trommelfell
durchbohrte. Allein deswegen hätte sie vielleicht noch nicht die Kontrolle verloren. Womöglich wäre sie nur auf die Knie gegangen
und über den Boden gekrochen, hätte verzweifelt nach einem Hauch frischer Luft gegiert. Doch was sie sah, ließ Panik in ihr
hochsteigen.
Ein riesiger Leichenberg türmte sich bis unter die Decke. Männer und Frauen verschiedener Rassen mit zerfetzter, blutdurchtränkter
Kleidung. Auch Tiere lagen inmitten dieser formlosen Masse. Sie sah unbekannte, wachsbleiche Gestalten. Diejenigen, die sich
näher am Aufzug befanden, lagen anscheinend noch nicht so lange da, und das waren bekannte Gesichter: Vera und ihre Töchter,
Alberto, Cassandra, Hugo … Teo, noch immer im Overall. Isabel drehte sich um und bettelte, jemand möge sie von hier wegbringen. Das Summen nahm zu.
Da sah sie im Spiegel des Aufzugs die letzte Leiche, ein paar rosige Frauenbeine, die leblos in bordeauxroten Stiefeletten
steckten. Isabel kannte diese Stiefeletten, sie trug sie normalerweise samstags beim Spazierengehen, es waren die, die sie
gerade anhatte. Isabel schrie auf und wollte sich im verzweifelten Versuch, zu entkommen, gegen den Spiegel stürzen, aber
das erwies sich als unnötig. Der Boden verschwand unter ihren Füßen, und sie fiel in einen tiefen Abgrund. Das Echo ihres
Schreis hallte von den Wänden des Aufzugschachts wider und verwandelte sich in ein wiederkehrendes schrilles Piepsen. Der
Klingelton ihres Handys.
Isabel schlug die Augen auf. Über ihrem Kopf sah sie die Zimmerdecke, aber das Piepsen war immer noch da. Sie streckte den
linken Arm aus und tastete nach dem Mobiltelefon. Schließlich fand sie es am Boden neben dem Sofa.
»Ja?«
»Isabel Alvarado?« Die Frage dröhnte in Isabels schmerzendem Kopf, und sie hätte beinahe aufgestöhnt. »O’Reilly am Apparat,
von der Arbeit Ihres Bruders. Ich war gestern bei Ihnen, erinnern Sie sich?«
»Sicher, sicher …« Isabel fragte sich, wie spät es wohl war und warum der gute Mann sie mitten in der Nacht anrief.
»Äh, also, tut mir leid, wenn ich Sie aus dem Bett hole. Meine Frau hat mir gerade gesagt, Sie hätten bei ihr angerufen. Wissen
Sie, ich hatte mein Handy zu Hause liegen lassen, und jetzt versuche ich es schon seit einer ganzen Weile bei Ihnen.«
Isabels Traum löste sich in Luft auf, und sie sprang aus dem Bett. Jetzt wusste sie wieder, was passiert war, bevor sie über
dem Versuch, Teos Chef zu erreichen, eingeschlafen war. Schlaftrunken tastete sie sich hinaus auf den Flur.
»Mein Bruder.«
»Ist er denn wieder aufgetaucht?«, fragte der Mann nervös.
Isabel öffnete Teos Tür, fand das Zimmer jedoch so leer vor wie bei ihrer Heimkehr. Teo war nicht nach Hause gekommen.
»Nein«, antwortete Isabel. Ihr Puls ging schneller. »Er ist nicht hier. Wie spät ist es eigentlich?«
Sie spürte, wie eine große Schwäche sie überkam. Sie setzte sich aufs Bett, neben das Kissen ihres Bruders.
»Es ist halb fünf, Señorita Alvarado. Meine Frau hat mir erzählt, dass Teo hier war, kurz nachdem wir weg waren. Sie hat ihm
angeboten, ihn nach Hause zu bringen, aber er wollte nicht. Sie meint, sie hätte gedacht, dass er wieder heimfährt.«
»Und was ist mit dem Turm? Bestimmt ist er doch dorthin gefahren!« Isabels Stimme war laut geworden und ihre Worte klangen
wie ein Vorwurf.
»Bitte beruhigen Sie sich«, antwortete O’Reilly. »Im Turm ist er nicht gesehen worden. In der Zeit, als ich versucht habe,
Sie zu erreichen, hat meine Frau sämtliche Mitarbeiter angerufen. Keiner hat seit gestern etwas von Teo gehört. Dabei kennen
ihn doch alle, Señorita Alvarado, wenigstens vom Sehen, er ist ja auch ein guter …«
»Und was ist mit den Wachleuten?«, fiel Isabel ihm ins Wort.
Ihre Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Sie stand auf.
»Beim Wachdienst im Turm habe ich als Erstes angerufen. Dort wusste auch keiner etwas.«
»Vielleicht hat ihn einfach niemand hineingehen sehen.«
»Glauben Sie mir, das ist ziemlich unwahrscheinlich«, sagte O’Reilly. »Es mögen ja weniger Wachleute da sein als tagsüber,
aber die Kameras laufen weiter, und soviel ich weiß, erfassen sie praktisch das gesamte Gebäude. Nein, er wäre bestimmt gesehen
worden.«
»Und wo steckt er dann?«
Isabels Stimme zitterte hörbar.
»Ich weiß es nicht, Señorita Alvarado. Vielleicht hat er sich verfahren,
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