Der 26. Stock
Tag legst, nicht leisten.«
»In letzter Zeit?« Isabel wurde nun doch laut. »Bist du denn blind? Merkst du nicht, was los ist? Alberto, Vera, Cass …«
»Das sind Zufälle. Deine Fantasie geht mit dir durch.«
Isabel stützte sich auf den Tisch. So mies wie jetzt hatte sie sich noch nie so gefühlt. Sie hätte diesen Idioten am liebsten
umgebracht.
»Weißt du, dass jemand aus der Firma Cass abgeholt hat?«, fragte Isabel. »Merkst du denn nicht, dass sie uns nach und nach
fertigmachen wollen?«
Rai verzog unwillig das Gesicht.
»Was redest du da für Unsinn? Nein, von Cass habe ich nichts gehört, aber ich nehme an, wenn man sie abgeholt hat, dann um
sie in eine bessere Klinik zu bringen, so wie Alberto auch. ›Uns fertigmachen‹, was soll das heißen? Isabel, ich möchte dir
ja nicht zu nahetreten, aber … du solltest vielleicht einen deiner Studienkollegen aufsuchen. Hat etwa jemand versucht, dich fertigzumachen?«
Keine Frage, Rai machte sich über sie lustig. Da saß das Schwein mit seinem fiesen Grinsen vor ihr. Isabel konnte nicht anders
als den Arm auszustrecken und ihn am Kragen zu packen.
»Du weißt es, oder? Du weißt, was mit meinem Bruder passiert ist! Wenn ich herausfinde, dass du dahintersteckst, dann bring
ich dich um! Wo ist er?«
Es überraschte sie, wie wenig Widerstand Rai zeigte. Halbherzig versuchte er, sich loszumachen. Durch den Hemdstoff hindurch
spürte Isabel, dass er zitterte.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Rais Zittern wurde noch deutlicher.
»Wo ist er?«, schrie Isabel, ohne ihren Griff zu lockern. Sie war noch nie handgreiflich geworden.
»Raus jetzt!«, schrie Rai zurück. »Ich warne dich, ich rufe gleich den Wachdienst! Du bist gefeuert, du hast hier nichts mehr
zu suchen!«
Isabel holte aus. Sie war im Begriff, zum ersten Mal einen Menschen zu schlagen. Doch dann hielt sie mitten in der Bewegung
inne. Rai hatte nicht etwa reflexartig die Augen zusammengekniffen, sondern starrte auf einen Punkt hinter ihr. Sie ließ die
Faust sinken, ohne recht zu wissen, warum.
»Ich fürchte, hier liegt ein Missverständnis vor«, sagte eine durchdringende Stimme.
Isabel ließ Rais Hemd los und drehte sich um. Vor ihr stand ein großgewachsener, breitschultriger Mann. Eine tadellos frisierte
blonde Mähne ging in einen dichten gepflegten Vollbart über. Isabel konnte das Alter des Mannes nicht abschätzen. Das intelligenteBlitzen seiner türkisblauen Augen kündete von einer Menge Lebenserfahrung, doch die straffe sonnengebräunte Stirn schien eher
einem jungen Mann Anfang dreißig zu gehören.
»Señor Gaardner!«, entfuhr es Rai. Hastig versuchte er, seinen Kragen zurechtzuziehen. Die Störung schien ihm überaus peinlich
zu sein, obwohl sie ihm einen ordentlichen Kinnhaken erspart hatte. »Warum hat meine Sekretärin Sie denn nicht angekündigt?«
Isabel erkannte den Namen: Das war also die zweite Person, die ihre Kündigung unterschrieben hatte.
»Ich habe Ihrer Sekretärin gesagt, dass es nicht lange dauern würde, und sie hatte nichts dagegen.« Isabel entspannte sich.
Die tiefe, sanfte Stimme des Mannes schien ihre Ohren zu liebkosen.
»Was … was kann ich für Sie tun?«, fragte Rai, während er dem Besucher seine immer noch zitternde Hand hinhielt.
Dieser ignorierte die Geste, nickte und streckte seinerseits Isabel die Hand entgegen. Isabel nahm sie und dachte, dass sie
seit langem kein so freundliches Lächeln mehr gesehen hatte. Gaardners Händedruck war verblüffend, so weich wie von einer
Frauenhand. Als sich die Hände der beiden lösten, warf Gaardner Rai einen leicht spöttischen Blick zu.
»Señor Lara, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Gestern habe ich anscheinend die Kündigung für Señorita Alvarado unterschrieben.
Dabei hatte ein Freund sie mir in äußerst positivem Licht dargestellt. Ich habe jeden Tag Unmengen von Schreiben zu unterzeichnen,
und da habe ich wohl übersehen, worum es hier ging. Sehen Sie mir das nach?«
Rai klappte der Mund auf. Er war blass geworden. Isabel spürte, wie sich ihr Herz triumphierend weitete. Der Mann wandte sich
ihr zu, als wäre Rai für ihn Luft.
»Schön, Señorita Alvarado. Sie sind wahrscheinlich der erste Mensch, der am selben Tag gefeuert und befördert wird. Und jetzt
möchte ich Ihnen Ihre neue Stelle zeigen. Darf ich bitten?«
Galant bot Gaardner Isabel den Arm. Sie blieb wie erstarrt stehen. Das war die Beförderung, von der Hugo
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