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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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Sie ging zum Tisch und setzte sich. Der Umschlag war weiß und hatte in einer Ecke das Firmenlogo, wie so viele
     Umschläge, die Isabel Tag für Tag in der Hand hatte. Er enthielt ein einzelnes Blatt Papier. Der Inhalt war klar und deutlich.
     
    Sehr geehrte Frau Alvarado,
    wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die Unternehmensleitung sich angesichts des wachsenden Vertrauensverlusts bezüglich
     Ihrer Arbeit genötigt sieht, fortan auf Ihre Dienste zu verzichten. Auf dem Postweg erhalten Sie in Kürze ein Arbeitszeugnis
     sowie eine Kalkulation der Ihnen zustehenden Abfindung.
    Mit freundlichen Grüßen
     
    Sie war gefeuert. Unter dem kurzen Schreiben standen zwei Unterschriften, darunter die Namen. Einer kam ihr vage bekannt vor.
     A.   Gaardner, der kürzlich ernannte Geschäftsführende Direktor des Unternehmens. Sie hatte seine Unterschrift in den letzten Wochen
     auf einigen Schriftstücken gesehen, kannte ihn allerdings nicht persönlich. Der zweite Name war Isabel überaus vertraut. Er
     gehörte zu dem Mann, der in den vergangenen Monaten versucht hatte, ihr das Leben im Unternehmen schwer zu machen. Sie stand
     auf, das Schreiben in der Hand. Sie würde nicht mehr lange überlegen. Sie wusste, dass sie sonst nicht mehr den nötigen Mut
     haben würde, zu Rai hinüberzugehen und ihn zur Rede zu stellen.

II
Antworten

26
    Isabel Alvarado hatte fünf lange Jahre Psychologie studiert und wusste, dass der Mensch bedingt belastbar ist. Der Alltag ist gelegentlich Veränderungen
     unterworfen, unverhofften Wandlungen, die die emotionale Stabilität eines Menschen schwer erschüttern können. Der Tod einer
     geliebten Person, ein Vertrauensbruch in der Partnerschaft, eine Entlassung, sogar ein einfacher Umzug können einen Menschen
     so aus dem Gleichgewicht bringen, dass er sich nie wieder davon erholt. Manchmal gelingt es dem Betreffenden, sich in der
     neuen Lage einzurichten, und da die Zeit bekanntlich Wunden heilt, kehrt das Leben allmählich in geordnete Bahnen zurück.
     Doch Isabel wusste auch: Wenn es binnen kurzem zu einer Häufung solcher Veränderungen kommt, dann verliert der Mensch zuweilen
     jeglichen Halt. Und so erging es nun ihr, auch wenn ihr das erst viel später bewusst werden sollte. Isabel verlor die Kontrolle.
    Als sie das Büro verließ, merkte sie weder, mit welchem Knall sie ihre Tür zuschlug, noch fielen ihr die Kollegen auf, die
     am Aufzug standen und erstaunt zu ihr herüberblickten. Für Isabel gab es nur noch eine Tür – eine Doppeltür am Ende des Flurs,
     die das Fußvolk von dem Mann trennen sollte, der dahintersaß. Isabel klopfte gar nicht erst an. Die junge Sekretärin schreckte
     aus ihrem Sessel hoch. Das passierte ihr nun schon zum zweiten Mal. Ihre Vorgängerin war aus einem geringeren Grund gefeuert
     worden. Sie versuchte, sich der ungebetenen Besucherin in den Weg zu stellen, doch vergeblich. Isabel stieß sie einfach beiseite.
     Die Sekretärin verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden und Isabel nutzte den Moment, um ungestört zu Rai hineinzugehen.
    »Nimm Platz. Ich hatte dich schon erwartet.« Isabel blieb stehen. Sie starrte Rai nur an und rang um Fassung. Sie wollte sich
     wenigstens so lange zusammennehmen, bis sie die Erklärung bekommen hatte, die er ihr schuldete. Schon das würde ihr schwerfallen.
    »Na schön, dann bleib stehen. Mach, was du willst. Wenn du hier bist, um dich nach deiner Abfindung zu erkundigen: Ich habe
     dafür gesorgt, dass sie so hoch ausfällt wie nur möglich, und sie wird dir auch umgehend ausgezahlt. Darum brauchst du dir
     also keine Sorgen zu machen.«
    Isabel ließ sich einige Sekunden Zeit, bevor sie antwortete.
    »Das bereitet mir auch keine Sorgen.« Ihre Stimme war kalt. »Ich will wissen, warum man mir kündigt. Das warst du, oder?«
    Rai begann, in irgendwelchen Dokumenten auf seinem Schreibtisch zu blättern.
    »Na ja, Isabel, du kannst ja sehen, dass ich deine Kündigung nicht alleine unterschrieben habe. Aber du hast recht, es geschieht
     auf meine Empfehlung hin. Du hast in letzter Zeit zu häufig gefehlt, und deine Einstellung hat sich negativ auf deine Teammitglieder
     ausgewirkt. Ein paar von ihnen haben sich bei mir über dich beschwert.«
    Isabel antwortete nicht. Sie wusste, dass er log.
    »Seit Tagen vernachlässigst du deine Arbeit«, fuhr Rai fort. »In einem anderen Unternehmen wäre das vielleicht nicht so wichtig,
     aber wir können uns ein Fehlverhalten, wie du es in letzter Zeit an den

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