Der 26. Stock
sich eine Art Riesenwurm mit milchiger Haut, der sich schwerfällig auf ihn
stürzte. Und es wurde nie müde …
Er spürte, wie seine Beine zitterten, sie gaben fast nach, er würde nicht mehr lange durchhalten. Mittlerweile war es ihm
egal. Vielleicht war das Ganze Teil eines Traums, und er war nur an seinem Schreibtisch eingenickt. Ärger mit seinem neuen
Chef, das war alles, was er riskierte. Wenn es freilich kein Traumwar, dann ging es hier darum, dass er von den Magensäften dieses Etwas zersetzt werden würde. In wenigen Sekunden würde er
hören, wie es sich über den Boden schob.
Aber dann hörte er ein anderes Geräusch hinter sich. Er drehte sich um. Alles schien unverändert, aber er war sicher, dass
er etwas gehört hatte. Da war das Geräusch wieder, und diesmal sah er, woher es kam. Er stand auf und machte einen Schritt
auf ein kleines Regal zu. Als der Junge, der sich dahinter versteckt hatte, ihn sah, sprang er auf und rannte weg. Er hatte
einen schwarzen Gegenstand in der Hand. Panik stand in seinen Augen.
»Warte!«, rief er dem Jungen hinterher. Er war völlig erschöpft, aber da der Junge das linke Bein nachzog, würde er ihn leicht
einholen. Von dem Jungen trennten ihn jetzt zehn, zwölf Meter. Endlich hatte sich die Rollenverteilung geändert. Jetzt war
er der Jäger. »Warte!«
Er war sicher, dass ihm der Junge nützlich sein und ihm bestimmt würde sagen können, was sie hier verloren hatten und wo die
anderen steckten. Er würde ihm zeigen, wie man von hier entkommen konnte, oder ihm wenigstens helfen, das Monster abzulenken.
»Wart mal, Junge! So bleib doch stehen!«
Aber der Junge schleppte sich mühsam weiter. Er wirkte wie ein verschüchtertes Vögelchen. Schließlich holte der Mann ihn ein
und packte ihn am Hemdkragen. Der Junge versuchte, sich loszureißen, aber er war zu schwach.
»Idiot! Warum läufst du denn weg? Weißt du, wie man hier rauskommt?« Der Junge brachte nur ein Stammeln hervor. »Los schon,
du Schwachkopf, sag mir, wie ich hier rauskomme.«
Da merkte er auf einmal, dass sich alles um ihn herum veränderte. Als Erstes hörte er das ferne Kreischen eines seltenen Vogels.
Dann spürte er unter den Füßen Wärme und weiches Moos, atmete die feuchte Luft des Raumes ein und wandte endlich die Augen
von dem Jungen. Die Schreibtische waren noch da, die Stühle, die Regale, die kaputten Computerbildschirme auch, aber das alles
war nun von Pflanzen überwuchert. Er sah mit eigenenAugen, wie lange tiefgrüne Lianen sich um die Möbel schlängelten, wie sie sich an die Decke krallten und auf ihrem Vormarsch
die Neonröhren zudeckten.
Dann hörte er aus nächster Nähe einen schrillen Ruf:
Ula-na-ka
! Etwas sirrte durch die Luft, und der schrecklichste Schmerz, den er in seinem ganzen Leben erleiden sollte, durchbohrte
sein Bein und griff von dort aus rasch auf den Rest des Körpers über. Er sah nach unten. Eine Art Pfeil hatte sein Knie durchbohrt;
die Spitze ragte auf der anderen Seite heraus. Er schrie und schrie und drehte sich dann nach dem Jungen um, aber der war
verschwunden.
Er musste ihn finden und versuchte, einen Schritt zu machen, doch seine Muskeln reagierten nicht. Von der Hüfte abwärts konnte
er nichts mehr spüren. Er betastete seine Oberschenkel. Sie waren hart wie Stein. Plötzlich fühlte er, wie es in seinem Unterleib
zu kribbeln begann. Eine Sekunde später bekam er kaum noch Luft. Sein Körper war stocksteif geworden. Er verlor das Gleichgewicht,
während hinter ihm erneut der Schrei ertönte:
Ula-na-ka
, und fiel zu Boden. Sein Gesicht schlug auf dem grünen Moos auf. Da sah er ihn, unter einem Schreibtisch versteckt, kaum
zwei Meter entfernt. Zu Tode erschrocken starrte der Junge ihn an.
»Junge, hilf mir. Ich heiße Miguel. Komm, ich tu dir nichts.« Die Lähmung schritt immer weiter fort. Er merkte, dass er die
Augen nicht mehr zubekam. Dann verbrauchte er die wenige Luft, die ihm noch blieb, für einen letzten schmerzerfüllten Aufschrei:
»Hilf mir!«
Der Junge hörte nicht. Er schloss die Augen und verharrte kauernd unter dem Schreibtisch. Miguel David spitzte die Ohren.
Das Monster. Das Monster musste in der Nähe sein, hungrig, begierig, einen ordentlichen Happen zu sich zu nehmen. Es würde
sich den Jungen schnappen. Er würde seine letzten Kräfte zusammennehmen, den Arm heben und dem Monster das Versteck dieses
viel schmackhafteren Leckerbissens zeigen. Dafür würde es ihm
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