Der 26. Stock
Ton.
Márquez machte sich auf den Weg ins Krankenhaus. Zum einen könnte er dort in der Cafeteria endlich etwas essen, zum anderen
würde er, wie er hoffte, Isabel antreffen. Sie musste einfach dort sein. Wenn Carlos inzwischen aus dem Koma erwacht wäre,
würde sie bestimmt den ganzen Tag bei ihm verbringen. Aber man hätte ihm davon berichtet. Jeder wusste, dass Carlos noch vernommen
werden musste. Und er, Márquez, war für den Fall zuständig, auch wenn dieser nur die Spitze des Eisbergs war, der in einem
Meer aus Scheiße schwamm. Márquez grinste. Das Bild gefiel ihm.
Cassandra betrachtete die Straßen durch das Busfenster. Clara tippte ihr auf die Schulter: Da war die Haltestelle. Sie war
noch nie bei Isabel gewesen, wohl aber bei Vera, die nicht weit von dort wohnte. Sie fasste die Mädchen bei der Hand und stieg
aus. Immer noch fiel es ihr schwer, sich darauf einzustellen, dass sie nichts hören konnte, aber das Schwindelgefühl und die
Orientierungslosigkeit ließen allmählich nach. Die Haustür des Gebäudes, das Vera ihr genannt hatte, stand offen. Hier würden
sie einen sicheren Unterschlupf finden.
»Wenn es sein muss, erzähl ihr alles«, hatte Vera gesagt.
Sie stiegen die Treppe hinauf. Es tat ihr wohl, dass Vera so viel Vertrauen in sie setzte. Sie hatte ihr das Wertvollste anvertraut,
was sie hatte, ihre Töchter. Als sie gerade an Isabels Wohnungstür klingeln wollte, spürte sie wieder eine Berührung an der
Schulter. Sie drehte sich um. Clara hatte den Zeigefinger auf die Lippen gelegt und machte einen Schritt auf die Tür zu. Erst
jetzt sah Cassandra, dass die Tür nur angelehnt war. Clara warf einen Blick hinein. Sie schrieb etwas auf die Tafel und gab
sie Cassandra zu lesen.
Da ist ein Mann.
Cassandra warf ebenfalls einen Blick durch den kleinen Spalt. Jemand schien dort etwas zu suchen; dann verschwand er in einem
der Zimmer. Ohne lange zu überlegen, winkte Cass den beiden Mädchen, mit ihr ins nächste Stockwerk hinunterzugehen. Dort blieben
die drei auf dem Treppenabsatz stehen. Clara lauschte, dann schrieb sie wieder auf die Tafel.
Jetzt steht er an der Treppe und redet.
Dann wischte sie den Satz weg und schrieb weiter.
Er redet mit dem Handy und sagt: ich höre, gut , paar Tote zu viel, ich rede mit
Dann wagte Clara sich ein paar Stufen hinauf, um nach dem Mann zu sehen, machte aber sofort kehrt und gestikulierte, der Mann
sei auf dem Weg nach unten. Intuitiv entschloss Cassandra sich, auf eine der Türen zuzugehen und so zu tun, als wäre sie gerade
dabei, die Wohnung aufzuschließen. Clara und Ana verstanden sofort und kamen mit.
»Dreht euch nicht um«, flüsterte sie ihnen zu, aber sie hörten nicht darauf.
Er hatte sie gefunden. Er hatte nach Isabel gesucht, und stattdessen hatte er jetzt sie. Fette Beute, keine Frage. Sie spürte,
dass ihr die Kraft fehlte, sich umzudrehen. Sie senkte den Kopf und schloss die Augen. Erst als sie jemand am Ärmel zupfte,
sah sie wieder auf. Clara hielt ihr die Tafel hin.
Er ist weg.
Cassandra atmete tief durch. Sie trat ans Geländer und bat Clara, ihr Bescheid zu sagen, sobald sie die Tür ins Schloss fallen
hörte. Als Clara winkte, gingen sie rasch die Treppe hoch. Sie klingelten mehrmals, aber niemand öffnete. Isabel war offensichtlich
nicht zu Hause, und Cassandra war nicht die Erste, die das feststellte.Die drei verließen das Gebäude, liefen bis zur nächsten Straßenecke und bogen links ab. Ana fing an zu weinen.
Sie ist müde.
Cass nickte. Clara hatte recht. Vera hatte zu ihr gesagt, wenn etwas schiefging, solle sie lesen, was sie ihr auf die Serviette
notiert hatte. Sie kramte in der Tasche danach, faltete die Serviette auseinander und las. Eine Handynummer. Okay, dachte
Cassandra, sie würde ihre Anweisungen genau befolgen. Sie ging zur nächsten Telefonzelle und warf einige Münzen ein. Erst
als sie die letzte Ziffer eingetippt hatte, wurde ihr eine einfache Tatsache bewusst: Sie würde nicht hören können, was ihr
Gegenüber sagte. Hastig hielt sie Clara den Hörer hin.
»Sag, es gibt Probleme.«
Das Mädchen verstand sofort. Cassandra sah, wie sie die Lippen bewegte. Sie versuchte, abzulesen, was sie sagte, doch Clara
redete zu schnell, und sie konnte nur einzelne Wörter aufschnappen. Die Kleine nahm die Tafel und notierte eine Adresse, und
darunter schrieb sie:
Wir sollen von hier weggehen. Er sagt, beim Licht
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