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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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das Leben schenken.
    Doch was Miguel näher kommen hörte, war nicht das Monster. Es waren Schritte, und dazu die Gesänge:
Ula-na-ka
,
Ula-na-ka
! Immer wieder diese Silben, ein endlos wiederholter Singsang. Sie waren zu mehreren. Männer und Frauen. Den Stimmen nach
     waren sie mindestens zu zehnt. Bestimmt waren sie nur wenige Meter weit entfernt. Miguel versuchte zu schreien, sich zu bewegen,
     aber vergeblich. Der Pfeil. Er musste vergiftet gewesen sein! Die Augen brannten ihm entsetzlich. Er hörte den Singsang genau
     hinter sich. Ein Paar nackter Füße blieb vor ihm stehen und verstellte ihm die Sicht auf den Jungen. Das Lied brach ab. Er
     spürte, wie er hochgehoben und auf den Bauch gedreht wurde. Dann sah er sie. Sie standen in einem Kreis um ihn herum, Menschen
     mit goldener Haut, nur von schmalen Lendenschurzen bedeckt. Da waren Männer, Kinder, Frauen mit nackten Brüsten. Sie sahen
     ihn an, die Kinder mit besonderer Neugier. Er musste mit ihnen sprechen, ihnen erklären, dass sie ihn gehen lassen mussten.
     Er würde ihnen geben, was sie wollten. Geld hatte er genug. Sie würden es annehmen, und alles würde nur noch eine böse Erinnerung
     sein. Aber er konnte nicht mehr reden. Einer der Männer beugte sich zu ihm herunter. Er war anders als die anderen. Sein Gesicht
     war weiß bemalt, wie auch die Schultern und die Brust. Seine Ohrläppchen waren so verformt, dass eine Art schwarze Scheibe
     darin Platz fand, und eine dünne Holznadel war waagerecht durch seine Unterlippe gebohrt. Er beugte sich noch näher zu ihm.
     Miguel spürte seinen Atem auf den schweißgebadeten Wangen. Er stank nach Asche und verfaultem Fleisch. Der Mann zog mit der
     Hand die Nadel aus seiner Unterlippe und ließ die Hand sinken, so dass Miguel sie nicht mehr im Blick hatte. Seine Augen waren
     weit offen, und er schien zu lächeln. Dann erschien die Hand wieder vor Miguels Gesicht. Die Nadel war in eine rote Flüssigkeit
     getaucht. Der Mann machte den Mund auf und schleckte die Nadel genüsslich ab.
    » Ula «
, sagte er, und dabei rann ihm ein winziger Tropfen von den Lippen und fiel Miguel in den Mund.
» Ula-na-ka .«
    Miguel spürte, wie der Tropfen sich auf seiner Zunge ausbreitete,und nahm einen metallischen Geschmack wahr. Das war Eisen. Eisen aus seinem eigenen Blut. Er wollte schreien, als der Mann
     abermals die Nadel senkte, um sie erneut mit Blut zu tränken, aber er konnte nicht.
    » Ula-na-ka !«
, schrie der Mann wieder.
    Die Übrigen antworteten im Chor, und Miguel sah, wie sie sich auf ihn stürzten. Vielleicht hätte er dem Himmel dafür gedankt,
     dass er nicht spüren konnte, wie sie ihn zerfleischten, doch als er mitansehen musste, wie eine Frau mit großen Brüsten seine
     abgerissene Hand verspeiste, verließ ihn sein Verstand und er fiel in einen schwarzen unendlichen Abgrund.
     
    Als der Junge den Blick hob, war alles vorüber. Der Unbekannte, der ihn verfolgt hatte, lag in einer Blutlache vor ihm. Der
     Junge hatte die Augen geschlossen, als der Unbekannte einen scharfen Brieföffner aus einer der Schreibtischschubladen gezogen
     und ihn sich mit verzweifelter Wut ins Knie gerammt hatte. Offenbar war der Mann verrückt geworden. Der Junge hielt sich die
     Ohren zu, um nicht die wilden Schreie hören zu müssen, die der Verrückte pausenlos ausstieß, bis er sich schließlich die Kehle
     durchstach.
Ula-na-ka !
Teo krabbelte unter dem Tisch hervor und schleppte sich zur Tür. Er musste hier weg. In seinem Kopf hallte noch immer der
     Schrei wider.
Ula-na-ka ! Ula-na-ka ! Ula-na-ka
: Rache.

33
    »Isabel ist also auch verschwunden   …« Zac, der auf einem der Sessel im Zimmer saß, ließ die Fingerknöchel knacken. Er beugte sich zu Carlos hinunter. Der lag
     da wie immer, die Augen geschlossen, fern der Gegenwart. Die Ärzte sagten, sein Zustand sei stabil, er könne jeden Augenblick
     aufwachen, aber erst einmal lag er da und schlief. »Ich dachte, sie wäre daheim und hätte keine Lust, ans Telefon zu gehen.
     Das mit ihrem Bruder wusste ich gar nicht.«
    »Hat sie Sie nicht angerufen, um Ihnen davon zu erzählen?«, fragte der Polizist.
    Zac schüttelte den Kopf.
    »Sie hat bei mir zu Hause angerufen, aber ich war in den letzten Tagen fast nie da. Meine Frau muss sich zurzeit praktisch
     allein um die Bar kümmern. Ich   … ich habe selbst ein paar Nachforschungen angestellt. Ich wollte rausfinden, was Carlos wirklich passiert ist.«
    Márquez gab keine Antwort. Er wusste: Wenn einer

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