Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
Vom Netzwerk:
Und dann sah sie ihr Gesicht.
    Das Mädchen presste einen kalten Lappen gegen die linke Gesichtshälfte. Vera löste ihn sanft. Das Auge war geschwollen, und
     auf der Wange waren wie eingebrannt die Spuren einer Hand. Vera kannte diese Spuren. Einen Augenblick lang hasste sie ihren
     toten Mann mit einer Intensität, die sie zu seinen Lebzeiten nie verspürt hatte. Und sie hasste sich selbst dafür, seine Wiederkehr
     heraufbeschworen zu haben.

40
    Zac stellte den Kleinbus in einer Seitenstraße ab, nahe einem kleinen Restaurant mit kolumbianischen Spezialitäten. Es war fast leer, wie
     damals, als er seine spätere Frau zum ersten Rendezvous dorthin eingeladen hatte. Er setzte sich an denselben Tisch am Fenster,
     und wie damals bestellte er, wohl aus Sentimentalität, die Bandeja Paisa für zwei, ein landestypisches Bohnen- und Fleischgericht
     mit Chili und frittierten Kochbananen. Die Kellnerin sah ihn überrascht an. »Sie müssen einen gesunden Appetit haben.«
    Zac lächelte und ließ am Ende mehr als die Hälfte stehen. Zu gerne hätte er seine Frau dabeigehabt wie beim ersten Mal, als
     sie erst ihm gegenübergesessen und dann auf seine Seite gewechselt hatte, aber früher oder später hätte er ihr doch alles
     erzählt, und sie hätte ihn dann nicht gehen lassen. Und diesmal hätte Zac ihr gesagt, er wisse nicht, was er finden werde,
     aber es sei etwas Gefährliches und Seltsames, wie ein Vorhang aus Dunkelheit, der erzitterte, wenn man ihn mit den Fingern
     streifte.
    Als er das Restaurant verließ, schlenderte er zu einem nahe gelegenen Park. Von einer Bank aus sah er den Kindern zu, die
     auf einem Spielplatz schaukelten. Eines Tages würde er mit seinen Kindern hierherkommen. Irgendwann wollte er als alter Mann
     zusammen mit Angie an einer großen Tafel in einer Hütte an einem See sitzen, umringt von Kindern und Enkelkindern.
    Eingelullt vom Rauschen des Windes, der über ihm die Blätter in den Baumkronen liebkoste, nickte er auf der Bank ein. Als
     er die Augen wieder aufschlug, streckte er sich und stand auf, bereit, wieder in die Großstadt einzutauchen. Er fuhr nach
     Norden in den Businessbezirk und hielt neben einem der U-Bahn -Eingänge.Er sah zum Turm hinauf, der stolz in die Höhe ragte, scheinbar unberührt von allem, was in seinem Inneren vorging. Für eine
     Weile blieb er im Auto sitzen und hörte Musik. Er durfte nichts überstürzen. Als die Sonne unterging, warf er einen bewundernden
     Blick auf die Fassade des Hochhauses. Der Himmel leuchtete in Rosa-, Blau- und Orangetönen. Die Farben spiegelten sich in
     der Fassade und verwandelten sie in ein Lichtermeer. Es war wunderschön. Zac fragte sich, ob der Architekt diese Wirkung vorausgesehen
     hatte oder ob er wohl ebenso überwältigt gewesen war, als er sie zum ersten Mal erblickte. Er stieg aus dem Wagen und öffnete
     die Schiebetür des Kleinbusses. Dann nahm er einen kleinen Werkzeugkasten und sah auf die Uhr. Der Moment war gekommen.
     
    09:25:09 
     
    Gaardner warf einen Blick auf die Uhr. Er hatte einen Plan gefasst. Er machte es sich in seinem Sessel bequem und strich sanft
     über die blaue Überdecke. Lustvoll legte er die Finger auf den Stoff, auf Isabels Hüfte. Sie schlief auf der Seite, eingerollt
     wie ein Baby. Gaardner streichelte sie. Er spürte, wie die Decke sich bewegte, wie sie sich im Rhythmus ihres Atems hob und
     senkte. Er hätte schwören können, dass Isabel zitterte. Vielleicht träumte sie von dieser Berührung. Im Schlaf murmelte sie
     etwas, das er nicht verstand. Er zog die Hand weg, er wollte nicht, dass sie aufwachte und erschrak. Sie würde ihm gehören,
     aber er musste langsamer vorgehen als je zuvor, seine Strategie durfte Isabel keinen Ausweg lassen. Sie schlug die Augen auf
     und sah ihn an, gähnte nur und lächelte dann. Gaardner hob das Glas, das er bereits in den Händen hielt.
    »Hattest du schon mal Champagner zum Frühstück?« Sie schüttelte den Kopf. »Na fein, meine Süße, dann erwarte ich dich im Esszimmer.«
    Er verließ den Raum, sicher, dass sie ihn nicht lange warten lassen würde. Viel mehr noch als Geld, viel mehr als Angst, war
     aufAttraktivität und Romantik gegründete Macht ein schwer zu überbietendes Gefühl. Während er ein zweites Glas mit Champagner
     füllte, dachte er an Luna. Er hätte von ihr alles nur Erdenkliche verlangen können. Er war gespannt, was passieren würde,
     wenn er eine Frau bat, ihr eigenes Leben für ihn zu opfern. Irgendwann würde er

Weitere Kostenlose Bücher