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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrique Cortés
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du bist.«
    Vera ließ sich nicht beirren.
    »Man hat mir nie gesagt, dass meine Töchter in Gefahr sind. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich rein gar nichts für die
     Firma getan. Und das weißt du ganz genau.«
    Hugo tat einen weiteren Schritt nach vorn.
    »Na und? Ich habe meine Familie auch verloren. Vor zwei Tagen. Sie sind alle tot, wie findest du das? Das war der erste Teil
     meiner Strafe. Ich habe um sie geweint, natürlich habe ich das, aber dann habe ich eingesehen: Wenn mich das Ganze die Familie
     gekostet hat, dann gibt es erst recht keinen Weg zurück.«
    Vera riss die Augen auf. Da stand Hugo vor ihr und sprach eiskalt über seine tote Familie. Das bestätigte ihre schlimmsten
     Befürchtungen. Ihre Töchter würden nicht einfach davonkommen, weil sie unschuldig waren.
    »Deshalb wollte die Firma Leute ohne Familie!«, schaltete Isabel sich jetzt ein. »Alleinstehende, denen alles Mögliche passieren
     konnte, ohne dass sich jemand darum kümmerte, und die keine Angehörigen zu verlieren hatten. Sie sollten niemanden beschützen
     müssen und niemand sollte emotional abhängig von ihnen sein.«
    »Hm.« Hugo fuhr sich nachdenklich durchs Haar. »So kann man das wohl sehen. Für meinen Geschmack etwas arg psychologisch.
     Aber doch recht nah an der Realität.«
    Er machte noch einen Schritt auf Vera zu. Mittlerweile stand er kaum einen Meter von ihr entfernt. Er streckte den Arm aus,
     um nach dem Revolver zu greifen, aber sie trat zurück.
    »Noch eine Bewegung, und ich schieße.«
    »Ja, und?«, sagte Hugo und ging weiter. »Tu doch, was du willst. Für mich spielt es keine Rolle mehr.«
    Er streckte erneut die Hand aus. Vera schloss die Augen, zögerte eine knappe Sekunde und feuerte. Hugos Hand und ein Teil
     seines Unterarms wurden zerfetzt. Er schrie auf vor Schmerz und sprang zurück. Mit der anderen Hand fasste er sich an den
     qualmenden Stummel, von dem Fleischfetzen herabhingen. Von der Hand selbst war nichts mehr zu sehen. Vera senkte die Waffe
     nicht. Sie zielte noch immer auf Hugo, der auf die Knie fiel, denKopf gesenkt, und den verletzten Arm an die Brust presste. Blut spritzte auf den Teppich. Vera trat langsam näher.
    »Du hast mich dazu gezwungen! Du wolltest es nicht anders!«
    Hugo hörte auf zu stöhnen, und der Blutschwall stockte. Er fing an zu lachen und sah zu der Frau hoch. Auf seinem Gesicht
     stand geradezu freudiger Triumph. Vera wich abermals zurück, allerdings nicht schnell genug. Mit einem Satz kam Hugo auf die
     Beine und packte mit der unversehrten Hand die Waffe. Für einige Sekunden rangen sie miteinander. Isabel sah sich nach etwas
     um, womit sie ihn hätte schlagen können. Doch als sie sich auf ihn stürzen wollte, war es zu spät. Hugo hatte Vera das Knie
     in den Bauch gestoßen und ihr den Revolver entrissen. Nun drehte er sich zu den beiden Frauen um.
    »Das hättest du nicht tun sollen. Aber keine Sorge, es tut bloß am Anfang weh. Dann ist es eigentlich ganz angenehm.«
    Ohne die Waffe loszulassen, entfernte er sich zwei Schritte von ihnen und hob, was vor wenigen Sekunden noch ein blutiger
     Stumpf gewesen war. Die Blutung war inzwischen versiegt. Vor den verblüfften Augen der beiden Frauen spielte sich ein wundersamer
     Prozess ab. Aus dem freiliegenden Knochen sprossen kleine rote Punkte, die Sandkörnern ähnelten. Es wurden immer mehr, die
     sich langsam in der Luft zu einer seltsamen Masse formten. Diese Masse zog sich zusammen und weitete sich wieder, bis der
     Unterarm und die Hand wiederhergestellt waren. Hugo streckte sie zufrieden aus. Die roten Punkte schienen zu trocknen und
     einen weißen Film um das frische Glied zu bilden. Hugo steckte die Pistole in den Gürtel, streifte die weißliche Hülle ab
     und ließ sie auf den Teppich fallen.
    »Das ist das einzig Unerfreuliche daran«, sagte er. Vera trat zu Isabel und legte ihr beschützend die Hände auf die Schultern,
     ohne den Blick von Hugo zu wenden. »Ich muss mich dann jedes Mal häuten wie eine Schlange.«
    »Was war das? Wer bist du eigentlich, verdammt noch mal?«
    Hugo zog die Pistole wieder aus dem Gürtel. Er hielt sie in seiner neuen Hand und ließ sie um den Finger kreisen.
    »Wer ich bin?«, wiederholte er. »Ich bin Hugo, Vera, ich habe nie aufgehört, ich zu sein. Wer auch immer uns bestraft, mir
     hat man das hier zugedacht. Meine Familie ist tot, dafür bin ich unzerstörbar. Und glaub mir, das betrifft nicht nur den Arm,
     kein Teil meines Körpers ist durch

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