Der 26. Stock
buchstäblich
weg, als würde ein Gemälde Tropfen für Tropfen zu einer Pfütze zerrinnen. Sie wechselten einen fassungslosen Blick. Sie standen
vor der nackten weißen Wand, an der lediglich ein winziges Bild in einem dicken Goldrahmen hing. Der Rahmen war quadratisch
mit etwa dreißig Zentimetern Seitenlänge, das Bild selbst nahm nur ein paar Daumenbreit ein. Isabel sah es sich von Nahem
an. Ihre Neugier war stärker als ihre Angst. Dann machte sie einen Schritt zurück und forderte Vera auf, sich die rätselhafte
Darstellung auf dem winzigen Gemälde ebenfalls anzusehen. Abgebildet war eine goldene Waage auf schwarzem Grund. Auf einer
der Waagschalen lag eine große weiße Feder. Auf der anderen stand eine Gestalt, die etwas in der Hand hielt. Durch die geringen
Maße war ihr Gesicht nur ein Farbfleck ohne Konturen. DochForm und Farbe ihrer Kleidungsstücke waren deutlich zu erkennen. Vera trat zwei Schritte von der nackten Wand zurück. Sie
brauchte nicht an sich herunterzusehen, um zu begreifen, dass diese Gestalt sie selbst war.
Der alte Mann stieg aus dem Aufzug. Punkt elf Uhr abends. Das 21. Stockwerk war menschenleer. Der Mann durchquerte das Großraumbüro, und da fiel sein Blick auf etwas, das ihn innehalten ließ.
Neben einer Computertastatur hatte jemand ein Foto aufgestellt, das eine Frau und ein Mädchen zeigte, vermutlich die Tochter,
eine bildhübsche Kleine mit kastanienbraunem Haar. Beide lächelten in die Kamera. Der Besitzer der Fotografie war in diesen
Momenten bei ihnen. Er kauerte in einem Sessel bei sich zu Hause, wo er sich vor der Kälte verschanzt hatte und einen Zeichentrickfilm
sah, den sich seine Tochter schon seit Wochen wünschte. Es würde alles gut gehen. Er würde am Montag nicht in den Turm zurückkehren.
Nie wieder würde er dort arbeiten. Womöglich bewahrte ihn das davor, ein Unmensch zu werden. Jedenfalls würde er seine Chance
bekommen.
Der Alte legte den Bilderrahmen umgedreht auf den Tisch und setzte seinen Weg zum Ende des Korridors fort. Er öffnete die
dritte Tür rechts und betätigte den Lichtschalter. Eine schwache weiße Glühbirne, die von der Decke hing, beleuchtete eine
enge Putzkammer. Alles war bereit. Er zerrte den ersten Behälter in das Büro nebenan. Eine rosa Flüssigkeit darin schwappte
hin und her. Dann war der zweite Behälter an der Reihe, der die dunkelgelbe Flüssigkeit enthielt. Er stellte beide nebeneinander
in die Mitte des Büros. Langsam, ohne Hast, schraubte er die Behälter auf. Ein strenger Geruch stieg ihm entgegen und verteilte
sich im Raum. Er zog sämtliche Schubladen auf und leerte ihren Inhalt, allerlei Papiere und alte Berichte, quer über den Boden
aus. Später würde er sichergehen, dass die Tür ordentlich verriegelt war. Er lehnte sich an die Wand und rutschte daran herunter.
Seine Gelenke knackten, als er in die Knie ging, und ein stechender, trockener Schmerz schoss ihm ins Gehirn.
Er war alt, zu alt, aber er war auch froh, dass er seine Mission bald erfüllt haben würde. Er hatte beschlossen, sich ein
letztes Spiel zu gönnen, einen abschließenden Schabernack. Er hatte es nicht eilig. Das 21. Stockwerk hatte er ganz bewusst ausgesucht. Er wusste, wie der Turm gebaut war. Darüber hatte er sich gleich als Erstes informiert,
als er für diese letzte Aufgabe erwählt worden war und seine Stelle hier angetreten hatte. Der Architekt hatte das 17. Stockwerk in ausgeklügelter Weise so gestaltet, dass ein Feuer nicht von den unteren in die oberen Stockwerke übergreifen
konnte oder umgekehrt. Der Mann wiederum wollte sicher sein, dass das Hochhaus nicht einstürzte, denn sonst hätte Gefahr bestanden,
dass zahlreiche Unschuldige, die zufällig in der Gegend waren, ums Leben kamen. Dennoch würde das Gebäude so stark beschädigt
werden, dass an eine Instandsetzung nicht mehr zu denken wäre. Am Ende würden sie es sprengen müssen.
Er versuchte, sich vorzustellen, was dann an die Stelle gebaut werden mochte. Vor seinem geistigen Auge erschien ein Park
mit Sandkästen, Schaukeln und viel grünem Rasen, wo die Kinder nach Herzenslust herumtollen konnten, aber er wusste, dass
die Wirklichkeit weniger schön ausfallen würde. Wahrscheinlich würde man einen ähnlichen Komplex hochziehen wie den alten,
moderner, aber mit demselben Zweck. Aber das war jetzt nicht entscheidend. Sein Auftrag betraf den Turm. Alles andere würde
später kommen.
Er zog eine
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