Der 26. Stock
Gewissen verkauft. Und ich würde es wieder
tun. Aber du warst da nicht anders. Du hast weiter für das Unternehmen gearbeitet, obwohl du wusstest, was wir taten. Niemand
hat dich gezwungen, jeden Monat dein Gehalt einzustreichen. Und Isabel? Mag sein, dass sie naiver war als wir und sich nicht
um die Aktivitäten der Firma geschert hat, aber das macht sie gewiss nicht weniger schuldig. Ich habe wenigstens gelernt,
mir meiner Schuld bewusst zu sein.«
Hugo stieg in den Aufzug und aktivierte ihn wieder mit seiner Karte. Isabel sah zu, wie sein Finger zur »27« wanderte.
»Wer hat dir das angetan, Hugo?«, fragte Vera, auf Isabels Schulter gestützt.
Der Mann drehte sich zu ihr um.
»Ich habe mein Leben lang für die Position gekämpft, die ich eines Tages dann auch erreicht habe, und darauf bin ich stolz.
Es ist mir egal, welche Konsequenzen das für andere gehabt haben mag, und wenn nicht dieses verdammte Etwas hinter uns her
wäre, dann wäre ich jetzt ein glücklicher Mensch. Wir haben versucht zu kämpfen, Widerstand zu leisten, aber ohne Erfolg.
Also haben wir beschlossen, uns zu verstecken. Vor kurzem hat es die Kontrolle über ein ganzes Stockwerk gewonnen. Viele mussten
dort sterben. Ich habe meine Familie verloren und keinen Grundmehr zu kämpfen. Die Anweisungen des Vorstands befolge ich allerdings weiter. Aber vor allem möchte ich eines sicherstellen:
Wenn ich bezahlt habe, wenn Alberto bezahlt hat, wenn du selbst bezahlt hast, dann sollen alle anderen das ebenfalls tun,
unsere Freundin hier eingeschlossen.«
Er musterte Isabel einige Sekunden lang und drehte sich dann zur Tür. Der Aufzug erreichte die obersten Etagen.
»Alberto …« Veras Lippen bebten, als sie jetzt sprach. Sie hatte es vermutet, seit er in jener Nacht verschwunden war, die schon so
weit weg schien. Und doch weigerte etwas in ihr sich immer noch, es anzunehmen. »Ist er tot?«
»Nicht so ganz«, antwortete Hugo geheimnisvoll.
Der Lift hielt, und nach ein paar Sekunden gingen die Türen auf. Isabel schloss die Augen und dachte an ihren Traum zurück,
in dem sie ein ganzes Stockwerk voller nackter, bleicher Leichen gesehen hatte. Teo und Alberto waren auch darunter gewesen.
Sie schüttelte den Kopf. Das Brummen einer Million Fliegen. Sie hätte am liebsten geheult. Neben sich hörte sie Veras rasselnden
Atem. Sie öffnete die Augen. Da lagen keine Leichen, das war einfach ein weiteres Stockwerk. Aber es wirkte doch ganz anders
als die anderen. Isabel bemerkte sofort die verbrauchte, muffelige Luft, wie in einem Keller oder vielleicht in einem Mausoleum.
Sie versuchte, dieses Bild aus ihrem Kopf zu verbannen. An den Wänden war stellenweise die Farbe abgebröckelt; breite schwarze
Feuchtigkeitsflecken bedeckten einen Teil der falschen Stuckdecke, die an mehreren Stellen Risse und abgebrochene Ecken aufwies.
Das Metall an Aktenschränken und Stühlen war rostig. Sogar die Papiere, die auf dem Boden verstreut lagen, hatten einen unangenehm
aschgrauen Stich. Die Leuchtröhren waren zerbrochen oder durchgebrannt, aber von irgendwoher kam noch Licht. Das Stockwerk
schien seit Jahrhunderten verlassen. Isabel fiel auf, dass eine seltsame silbrige Substanz auf dem Teppich eine Art Spur bildete,
und fragte sich, was das wohl sein mochte.
»Dies ist ein überaus merkwürdiger Ort«, sagte Hugo wieder in seinem gewohnt höflichen Tonfall. Er trat beiseite und bedeuteteihnen, aus dem Lift zu steigen. Vera gehorchte als Erste. Er selbst blieb in der Kabine stehen. »Er verändert sich mit jedem,
der hier ankommt, als würde er das Gewissen jedes einzelnen Besuchers scannen. Zum Glück widerfährt mir hier kein Übel, was
man von anderen freilich nicht behaupten kann.«
Er drückte einen weiteren Knopf und winkte ihnen zum Abschied.
»Wo ist Teo?«, fragte Isabel. Hugo ignorierte sie.
»Also, wer uns das alles antut, verfügt zweifellos über eine Menge Phantasie.«
Isabel trat vor und versuchte zu verhindern, dass sich die Türen schlossen.
»Wo ist er?«
Vera zerrte Isabel zurück, damit ihre Hand nicht eingeklemmt wurde.
»Also, viel Spaß!«, hörten sie Hugo noch spöttisch rufen.
Dann folgte tiefe Stille.
»Alles in Ordnung?«, fragte Vera. Sie steckte die Hand in die Hosentasche und zog ihre I D-Card heraus. »Wir müssen hier weg. Irgendetwas stimmt hier nicht.«
Als Vera gerade die Karte in den Schlitz stecken wollte, sahen sie beide, wie es geschah. Die Aufzugtür schmolz
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